Leseproben

Auszüge aus Kapitel 1

Operation Buttercremetorte

Mit der „Operation Buttercremetorte“ startete ich am ersten Oktober des Jahres 1951, einem herbstlich anmutenden Montag. Diesen Termin verdankte ich meiner umsichtigen Erzeugerin. Sie hatte mit mütterlicher Entschlossenheit dafür gesorgt, dass ich nach Beendigung der Hauptschule in Lambach ungeachtet beginnenden Stimmbruchsund fehlender Bildung die Aufnahmeprüfung für die Salzburger Hotelfachschule in Bad Gastein ablegen durfte.

Diese Institution war zu dieser Zeit eine von wenigen Lehranstalten für Hotellerie in Europa. Sie residierte in einem angestaubten Luxushotel aus dem Neunzehnten Jahrhundert, dessen vergangene Opulenz sich nur vage erahnen ließ.

Mutter und Schwester begleiteten mich zum Bahnhof von Bachmanning, um mich in eine längere Abwesenheit zu verabschieden. Sie hatten nicht nur ein grobkariertes Pappendeckel-Behältnis für mich gepackt, sondern auch einen Korb mit Unmengen an Proviant. Wie die meisten Kinder des Krieges, war ich ein dürres Würstchen mit nie endendem Kohldampf und man konnte ja schließlich nicht wissen, wie eine solche Reise sich gestaltete und wie lange sie am Ende dauerte.

Meine Mutter hatte mich recht ansehnlich ausstaffiert. Als gelernte Schneiderin nutzte sie die Möglichkeiten, aus dem Wenigen, was uns zur Verfügung stand, etwas Repräsentatives zu zaubern. Ich fühlte mich wie ein kleiner Herr. Zur Feier des Tages trug auch meine Schwester Susi ein feines, helles Kleid mit kecken Rüschen, in dem sie aussah wie eine Prinzessin. Ihre dicken, blonden Zöpfe waren von dottergelben Samtschleifen gebändigt. Sogar meine Mutter, die sonst dunkler Farblosigkeit huldigte, hatte sich in Schale geworfen. Plötzlich wirkte sie viel jünger. Sogar ihr verhärmtes, kriegsgezeichnetes Gesicht nahm einen sanften, entspannten Ausdruck an und ich entdeckte, wie schön meine Mutter eigentlich war.

In diesem Moment, als wir drei am Bahnhof auf die Einfahrt der Bahn warteten, erfasste mich ein unbändiges Glücksgefühl, das tief aus meinem Bauch kam und mir Tränen der Dankbarkeit in die Augen trieb. Ich versuchte, sie zurückzudrängen, denn ich schämte mich ein wenig meiner Weichlichkeit. Aber sie liefen. Ich musste schniefen und meine Frau Mama um ein Taschentuch bitten. Sie nahm mich liebevoll in den Arm und drückte mich entgegen ihrer Gewohnheit, es mit den Zärtlichkeiten nicht zu übertreiben, so intensiv, dass ich kaum Luft bekam. Susi heulte wie ein Sturzbach, als sie mich zum Abschied tollpatschig umarmte. Das schöne Kleid war voller Flecken, als sie sich endlich von mir löste, weil zwischenzeitlich der Zug eingelaufen war. Hastig kletterte ich mit meinen Habseligkeiten in das Abteil, um nicht noch einmal von einer Woge salzigen Abschiedsschmerzes überwältigt zu werden.

Ich fand einen Platz auf einer abgesessenen Holzbank am Fenster, das ich öffnete, um noch einmal meine Honneurs Richtung Familie zu machen. Endlich bewegte sich das Vehikel und bereitete dem hemmungslosen Heulen und Winken ein Ende.

Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich schon wieder war. Ich ließ mich auf dem hölzernen Foltergerät mit Aussicht nieder und öffnete den Korb mit dem Proviant. Meine Mutter hatte es wirklich gut mit mir gemeint. Als erstes machte ich mich über die Schmalzbrote her, die ich mit großem Appetit buchstäblich in mich hineinschaufelte. Mir gegenüber hatte sich eine mittelalte Matrone in einem zu engen geblümten Wollkostüm niedergelassen, das ihr Hüftgold auf wenig charmante Weise umschloss. Sie beobachtete mich missbilligend.

Ich dachte daran, ihr eine Scheibe anzubieten, ließ aber von diesem Vorhaben ab, weil ich fürchtete, Nähte ihres floralen Ensembles könnten eventuell platzen, wenn sie sich weiteres Essen zuführte. Diesen Anblick wollte ich mir unter allen Umständen ersparen. Als habe sie meine Gedanken erraten, fischte sie plötzlich eine Dose mit Keksen aus den Tiefen ihrer riesigen Stofftasche. Sie bediente sich eifrig und bot – zu meinem Erstaunen – auch mir etwas von der Backware an. Es versteht sich, dass ich beherzt zulangte und ihr im Gegenzug etwas aus meinem reichen Fundus anbot. Während sie sich ständig etwas zwischen ihre zartgetönten Lippen schob, fragte sie mich über meine Herkunft, meine Pläne und meine Interessen aus. Sie redete fast ohne Punkt und Komma. Ich kam kaum dazu, all ihr Fragen zu beantworten. Dafür lag ihr Leben vor mir wie ein ausgebreitetes Laken. Die Zeit verging wie im Fluge und ehe ich mich versah, hielt die Bahn in Salzburg, meiner ersten Station auf dem Weg in jugendliche Freiheit. Ich verabschiedete mich von meiner großzügigen Sitznachbarin, die zum Glück noch vollständig angezogen war, und rumpelte auf den Bahnsteig.

Die Stunden, die ich vor meinem Umstieg in den Zug nach Bad Gastein verbringen musste, nutzte ich für einen ausgedehnten Bummel durch die Geburtsstadt Mozarts. Meine Klassenfreundin Inge, eine langbeinige Gazelle mit Schwanenhals, der ich in meinen letzten Schuljahren den Hof gemacht hatte, hatte mir eine Straße in Salzburg genannt, in der Minderjährige sich besser nicht sehen ließen. Nomen est omen hieß dieses verrufene Terrain „Herrengasse“. Es war natürlich klar, dass ich als erstes diese enge, leicht gewundene Gasse am Fuße des Festungsberges in der Altstadt aufsuchen würde, um herauszufinden, was es mit der Warnung meiner Inge auf sich hatte. Früher Heimstatt der „Geistlichen Herren“ des Doms – daher der Name „Herrengasse“ –, befand sich auf dem Pfad nun ein Bordell. Mir sagte der Begriff damals wenig, da es in der Gegend meiner Kindheit etwas Derartiges nicht gab. Jedenfalls nichts, was als Freudenhaus offiziell firmiert hätte.

Da ich sehr neugierig war und unbedingt wissen wollte, wie es in einem solchen Etablissement zuging, überwand ich Angst und Scham und klopfte mutig, wenngleich ein wenig verhalten, an die massive, dunkle Pforte aus Eichenholz. Allein schon dieses hölzerne Ungetüm war angsteinflößend. Das lag aber auch daran, dass darauf in großen weißen Lettern „NO LIMIT“ prangte. Mein Englisch reichte damals nicht aus, um diese geheimnisvolle Floskel zu deuten.

Endlich öffnete sich das Tor einen Spalt weit und ich stand einer semmelblonden Frau im Alter von vierzig bis fünfzig gegenüber. Sie war klein und kompakt und trug um die Schultern ein buntgeschecktes Seidentuch, das ihren großzügigen Ausschnitt leidlich bedeckte. Ihr teigiges Gesicht wirkte, als sei es mit einem Eimer voll Farbe zugespachtelt. Da sie ganz offensichtlich auf Kundschaft wartete, die ihre Reize zu schätzen verstand, schaute sie mich erschrocken an. Ich, obwohl in spätpubertärer Phase, fand keinen Gefallen an dieser welken Auslage, von der ich mir gewünscht hätte, dass das Seidentuch sie bedeckte. In diesem peinlichen Moment fragte ich mich, wer Sehnsucht nach einer solchen Frau haben konnte und dafür auch noch bezahlte, dass sie mehr als das Foulard en soie ablegte. Denn inzwischen war sogar mir klar geworden, dass derlei Dienstleistungen nicht umsonst zu haben waren.

Während ich mein Gegenüber fassungslos anstarrte, hörte ich im Hintergrund fröhliches Geschnatter deutlich jüngerer Frauen. Bevor ich derer allerdings ansichtig wurde, fauchte die Vertreterin des horizontalen Gewerbes mit unnachahmlichem österreichischem Zungenschlag: „Bürscherl, was hast‘ hier zu suchen? Zupf di, aber pronto, bevor ich dir deine roten Ohrwaschl bis zum Hos‘nboden obi ziag!“ Ich machte mich vom Acker, und zwar – wie geboten – pronto! Denn ich hatte erst mal genug vom anderen Geschlecht.

Nach diesem Schockerlebnis nutzte ich die wenige Zeit, die mir blieb, um das Grand Café Winkler auf dem Mönchsberg zu besuchen, welches der Hotelier Hermann Winkler gepachtet hatte. Winkler stammte aus Reichenberg im Sudetengau und war mit meinem hoch geschätzten Onkel Franz eng befreundet.

Das Café war ein begehrtes Ausflugsziel. Die Beliebtheit verdankte es auch dem Aufzug, der die Altstadt mit dem Mönchsberg verband. Im Winkler schlürften Gäste aus aller Herren Länder große oder kleine Braune, Einspänner, Melanges oder Kapuziner und natürlich gerne das eine oder andere Achterl. Anschließend wurde getanzt. Ich war hingerissen! Das war sie, die große Welt, von der ich seit meiner Kindheit geträumt hatte, und ich mittendrin! Aber um wirklich mittendrin zu sein, musste ich etwas verzehren. Deshalb bestellte ich mir eine heiße Schokolade mit Schlag, die mein Budget zwar belastete, aber zum Glück nicht sprengte.
Mein Horizont war bis dahin recht überschaubar gewesen. Bis zum achten Lebensjahr hatte ich regelmäßig meine Verwandten in Bad Bodenbach und Reichenbach besucht. Höhepunkte bildeten die Touren mit meinen Eltern nach Pommern an der Ostsee. Dann kam der Krieg in meine Heimat Schlesien. Es folgten kräftezehrende Jahre mit mehrmaligen Fluchten Richtung Westen, die in Bachmanning in Oberösterreich ihr vorläufiges Ende fanden. Ich konnte nur begrenzt nachfühlen, was meine Mutter während dieser düsteren Zeiten durchgemacht hatte.

Mit Salzburg begann sich der Tunnel zu lichten, denn diese Modelleisenbahn-Vorlage begrüßte zu dieser Zeit bereits unzählige Touristen aus England und Übersee. Verständlich, dass die Salzburger durch den internationalen Besucherverkehr wesentlich toleranter und lockerer waren als die Hinterwäldler in Oberösterreich.

Ich war gespannt auf Bad Gastein. Würde dieser Kurort ebenso weltoffen sein wie das Nockerl-Juwel an der Salzach? Bad Gastein galt seit den Zeiten von Kaiser Franz Joseph I. bis in die Vierzigerjahre als eines der nobelsten Heilbäder Europas. Kuren waren gesellschaftliche Ereignisse. Im Grand Hotel de l’Europe traf sich die internationale Prominenz zum Thermalbaden in Belle Époque Ambiente. Der neue Geldadel stieg im Hotel Weismayr im Zentrum ab.

Das Weismayr beherbergte die Hotelfachschule, zu der ich zu Fuß trottete, nachdem ich endlich in Bad Gastein eingetroffen war. Während des langen Marsches durch winkelige Straßen wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich kein illustrer Gast war, der in ein altes Luxushotel eincheckte, sondern lediglich ein ärmlicher Teenager, der die betuchte Klientel zu bedienen hatte.

Ein wenig durfte ich jedoch hineinschnuppern, denn mir wurde bei Ankunft ein Hotelzimmer in der zweiten Etage zugewiesen, um das mich auch zahlende Gäste beneidet hätten. Hätten sie allerdings gesehen, wie Staub, Motten und Schweiß sich in die vergilbten Tapeten gefressen hatten, wären sie in Mitleid ausgebrochen. Die Scheiben der großen Sprossenfenster waren so blind, dass sie das Tageslicht nur spärlich in den muffigen Raum ließen, den ich mir mit einem jungen Mann aus Wien teilte.

So hatte ich mir meine erste eigene Bleibe nicht vorgestellt. Mit einem etwas flauen Gefühl packte ich meinen karierten Pappkoffer aus und verstaute meine wenigen Habseligkeiten in einem altersschwachen Monstrum, das einen säuerlichen Geruch ausströmte. Das Bettzeug roch ebenfalls nach Geschichte. Vielleicht wurde es schon während des Dreißigjährigen Krieges benutzt. Mein Mitbewohner, ein Endzwanziger und Wiener adliger Herkunft, war ebenso wenig von seiner neuen Umgebung angetan, wie ich. Sein Missfallen unterstrich er, indem er den rechten Zeigefinger an seine rümpfende Nase hielt und sich anschließend schüttelte wie ein Hund, der sich in einer Pfütze gewälzt hatte. Diese kleine Szene löste bei mir ein herzhaftes Lachen aus, und er ließ sich davon anstecken. Als wir uns beruhigt hatten, holte ich die letzten zwei Schmalzbrote aus meinem Korb und teilte sie brüderlich mit ihm.

Seine Dankbarkeit für diese Geste zeigte er mir in der Folge etwas zu intensiv. Er klebte an mir wie Kaugummi an einem Turnschuh. Manchmal fand ich auf meinem Kopfkissen hübsch verpackte Süßigkeiten, die er dort liebevoll drapiert hatte. Diese Art männlicher Zuneigung war mir bis dahin fremd gewesen. Schließlich sprach ich ihn darauf an und bat ihn höflich, sich auf andere Schüler zu kaprizieren. Zum Glück akzeptierte er meine Bitte und hielt sich fortan fern von mir.

Im ersten und zweiten Stock waren die männlichen Schüler untergebracht. Die Etagen darüber waren der holden Weiblichkeit vorbehalten. Aus praktischen Erwägungen war zwischen zweiter und dritter Etage eine zusätzliche Wand eingezogen worden, um allzu heftiges Aufeinandertreffen beider Geschlechter nächtens zu unterbinden.

Aber wie das nun einmal so ist mit Verboten, üben sie den unwiderstehlichen Reiz aus, gebrochen zu werden. Bei uns war es nicht anders. Jeden Abend gegen 21 Uhr, wenn der Unterricht endete und Küche und Restaurant geschlossen waren, warf die Schülerschaft alle Regeln über Bord und vergnügte sich etagenübergreifend.
Bevor ich mein neues Heim im Weismayr endgültig beziehen konnte, musste ich sowohl eine mündliche als auch eine schriftliche Aufnahmeprüfung absolvieren. Diese Tortur dauerte zwei Tage. Das Gespräch mit dem letzten Kommissar der Prüfungskammer fiel befremdlich aus. Er behauptete allen Ernstes, meiner Handschrift eine unerhörte Arroganz entnommen zu haben. Aus diesem Grund empfahl er mir, intensiv über diesen graphologischen Makel nachzudenken, um später keine wie auch immer gearteten Enttäuschungen zu erleben. Aber worin liegt die Arroganz einer Handschrift? In den Oberlängen, den Rundungen, den Unterlängen, der Schreibrichtung oder gar in der Lesbarkeit? Ich dachte intensiv nach, allerdings nicht über mein weiteres Leben mit einer solchen Klaue, sondern über den unsäglichen Kommentar eines angejahrten Sesselklebers. Noch heute erinnere ich mich mit Schaudern an das ammoniakartige Odeur seiner abgetragenen Lodenjacke. Obwohl meine Schreibweise diese Deutung nahelegte, war ich alles andere als hochnäsig. Im Gegenteil, damals war ich bescheiden bis zur Unterwürfigkeit. Zu guter Letzt haben sowohl meine angehimmelte Hannelore als auch ich die Prüfung bestanden.

Theorie und praktischer Unterricht fanden erfreulicherweise in gemischtgeschlechtlichen Formationen statt. Wir wurden in fünf Klassen eingeteilt – drei Klassen des ersten Jahrgangs und zwei Klassen des zweiten Jahrgangs, basierend auf der Annahme, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler des ersten Jahrgangs sich für ein weiteres Jahr qualifizieren würden. Jede Klasse organisierte im Wechsel von sieben Tagen die Betreuung, Verpflegung und Reinigung, da es außer dem Lehrkörper kein weiteres Personal gab. Insgesamt waren wir knapp 150 Schüler und Schülerinnen und im Gegensatz zu mir waren die meisten von ihnen vielversprechende Abkömmlinge arrivierter Hoteliers-Clans aus aller Welt. Ihr Alter variierte zwischen achtzehn und fünfundvierzig, was bedeutete, dass die Studierenden manchmal älter waren als die Ausbilder. Der Jüngste mit fünfzehn Lenzen war ich, gefolgt von Hannelore mit zarten sechzehn. Derjenige, dem die Ehre zuteilwurde, den Altersdurchschnitt der Studierenden erheblich anzuheben, war ein Brasilianer namens Marius, der ursprünglich aus Ungarn stammte. Seine Eltern hatten nach dem Krieg ein Hotel in Sao Paulo erworben und ihren Sohn nach Bad Gastein geschickt, um ihm den Feinschliff für die Leitung einer gehobenen Herberge zu geben. Er sollte übrigens mein bester Freund an der Schule werden.

Beim ersten Treffen aller Teilnehmer bekam ich Gelegenheit, einige der italienischen Schüler kennenzulernen, die mit Verve daran gingen, ihr Revier abzustecken und ihre Duftmarken zu setzen. Bevor wir überhaupt realisierten, was vor sich ging, flirteten sie bereits beim Kaffeetrinken außerhalb des Hotels mit den hübschesten Mädchen. Ihre Sprache erwies sich dabei als Flirt-Booster, denn Italienisch klingt wie Musik und da braucht es nicht allzu viele Worte, um direkt in die Zielgerade einzulaufen.

Verständlich, dass ich nicht zurückstehen wollte. Meine Bemühungen konzentrierte ich auf das anspruchsvollste Objekt der Begierde, eine kühle, ikonische Blondine namens Ursula, kurz Ursel. Ihre Eltern betrieben das legendäre Café Schmidt in Schwabing. Welche Pläne sie für die Zeit nach der Hotelfachschule hatte, entzog sich meiner Kenntnis. Ursel, die ihren zwanzigsten Geburtstag schon gefeiert hatte, wurde neben mir von zwei kohleäugigen Venezianern heftig umworben.

Diese beiden – Söhne von Piero Beggiato, dem Eigner des Hotels Concordia, jetzt Metropol, und Renato Graziani, dem Herrn über das Continental – hatten die Dreißig längst überschritten und waren somit in meinen Augen steinalt. Aber sie konnten es sich leisten, die goldgelockte Schönheit an freien Wochenenden in die teuren Cafés von Bad Gastein auszuführen. Jedes Mal, wenn ich Ursel mit einem dieser gelackten Oldies die Straße entlanglaufen sah, wurde ich grün vor Neid. Sie wirkte unendlich erhaben, entfernt wie der Mond, wenn sie anmutig auf ihren hohen Absätzen über den Asphalt stöckelte und dabei liebevoll von einem ihrer italienischen Verehrer gestützt wurde.

Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich Ursels Aufmerksamkeit erregen konnte. Aber vorerst ließ mein Budget weitergehende Überlegungen in diese Richtung nicht zu. Logis und Verpflegung waren zwar dank eines Stipendiums, das ich als Flüchtling vom österreichischen Staat erhalten hatte, in den Seminarkosten enthalten. Aber das, was meine Mutter mir mitgegeben hatte, reichte bei weitem nicht, teure Kaffeehaus-Besuche zu finanzieren, schon gar nicht für ein kapriziöses Wesen wie Ursel.

Das sollte sich ändern, als ich mich mit Marius anfreundete, der mit den älteren Schülern nicht so recht warm wurde. Es schien fast so, als hätte er eine grundlose Angst, ihnen intellektuell unterlegen zu sein. So war es eigentlich nicht überraschend, dass wir einander fanden. Immerhin waren wir beide Außenseiter – Marius aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und ich, weil ich als Einziger keinen gastronomischen Hintergrund hatte und noch dazu arm wie eine Kirchenmaus war.

Im Laufe der zwei Jahre, die ich in Bad Gastein zubrachte, wurden wir dicke Kumpels und erfolgreiche Geschäftspartner. Das mag jetzt etwas hochgestochen klingen, aber Marius hatte den Zigarettenvertrieb als einträgliche Erwerbsquelle etabliert und beteiligte mich großzügig am Verkauf des begehrten Schmuggelguts. Auf diese Weise konnte ich meine flachen Finanzen ansehnlich aufpolstern. Mein brasilianischer Spezi lieferte und ich vertickte die Stängel mit einem Abschlag von dreißig Prozent auf den offiziellen Preis. Es handelte sich um Ware amerikanischer Provenienz, die er aus geheimen Quellen in Jugoslawien zu günstigen Bedingungen bezog. Ich hatte meine Zweifel, dass es sich um Originalprodukte handelte. Ich war so dumm nicht zu wissen, dass der Handel mit geschmuggelten Zigaretten strafbar war. Manchmal ist es besser, wenn man nicht alles weiß. Der Rauswurf aus der Schule wäre die geringste Strafe für dieses Vergehen gewesen.

Marius mag vielleicht kein Einstein gewesen sein, aber er besaß eine gehörige Portion Bauernschläue. Zudem war er eine stattliche Erscheinung mit formvollendeten Manieren und großer Überzeugungskraft. Diese Eigenschaften kamen uns beiden zugute, vor allem dann, wenn wir als seltsames Gespann um die Häuser zogen, das eher wie Vater und Sohn daherkam. Im Laufe der Zeit erwarben wir uns ein gewisses Ansehen. Es äußerte sich darin, dass wir in den Etablissements, in denen wir verkehrten, gute Plätze bekamen und die Drinks in der Regel aufs Haus gingen. Marius – stets in edles Tuch mit feschem Einstecktüchlein gewandet – verstand sich natürlich auch gut auf Frauen. Nicht wenige einsame Kriegswitwen und vernachlässigte Gattinnen erlagen seinem natürlichen k.-und-k.-Charme, der schon damals ein wenig aus der Zeit gefallen schien. Zuweilen fragte ich mich, was er eigentlich noch erlernen sollte. Für mich war er der beste Lehrmeister, den ich mir wünschen konnte.

Auszüge aus Kapitel 9

Der verrückte Frank, der unverschämte Johnny und der unsterbliche Mr. Acapulco!

... Das schien Frank, der unermüdlich an seiner Frau rumtätschelte, einen gewissen Respekt abzunötigen. „Ich kenne Zürs nur aus Erzählungen und weiß leider nicht, was das Luitpold ist, aber sicherlich ist das alles nichts im Vergleich zu L.A. Du kannst uns gerne dort besuchen kommen.“

"L.A.?“, fragte ich verwirrt. Damals war dieser Begriff noch nicht geläufig. Die USA waren für mich so fern wie der Mars.

Frank klärte mich auf: „Ach ja, ihr Hinterwäldler wisst natürlich nicht, dass L.A. die Abkürzung für Los Angeles ist. We Yanks like to cut, weil wir redefaul sind.“

Es war erstaunlich, wie sehr Frank sich als waschechter Amerikaner betrachtete. Aber typisch deutsch: Wenn wir etwas anpacken, dann gründlich! Meiner Ansicht nach gibt es keinen Begriff, der unsere Persönlichkeit besser beschreibt als das Adjektiv „gründlich“. Frank schien sich zu einem einhundertfünfzigprozentigen Ami entwickelt zu haben, was vor allem an seinem Sprachgemetzel deutlich wurde. Er mischte unzählige Anglizismen ziemlich sinnfrei in sein akzentgefärbtes Deutsch, das in dieser kaugummiartigen Darreichungsform für uns Eingeborene schwerlich verständlich war und höchstwahrscheinlich noch weniger für die arme Belinda.

„Meinst du das ernst?“, fragte ich ungläubig.
„Of course. What do you think? Also, wann dürfen wir mit deinem Besuch rechnen?“

Während er seine Einladung enthusiastisch bekräftigte, schlabberte er seine Frau auf eine Art und Weise ab, die mich etwas befremdete. Auch Vitalis schien Schwierigkeiten damit zu haben, den beiden Turteltauben bei ihren lustbetonten Handgreiflichkeiten zuzusehen, denn er guckte ostentativ nach rechts zu mir. Trotz dieser kleinen Unannehmlichkeit fand ich die beiden Linds äußerst sympathisch und versprach, sie im Winter zu besuchen.

Ende 1959 trat ich meine erste Reise in die Vereinigten Staaten an. Als Zwischenstopp stand New York auf dem Programm. Daraus wurde erst einmal nichts, denn der Flieger wurde aufgrund einer Sturmwarnung nach Montreal umgeleitet. So lernte ich auf dieser Reise auch noch einen Zipfel von Kanada kennen. Nach kurzem Aufenthalt flogen wir weiter nach Kalifornien.

In Los Angeles holte Frank mich vom Flughafen ab und schaukelte mich in einem imposanten – natürlich LINDgrünen – Cadillac Eldorado nach Beverley Hills. Beverly Hills galt als Synonym für den amerikanischen Traum von Reichtum, Glamour und Erfolg. Wir glitten über eine breite palmengesäumte Straße, die in Deutschland als Autobahn durchgegangen wäre und hielten am Ende vor einem großen Holzhaus.

„Yeah, wir sind da! My wooden home“, erklärte Frank lächelnd und bat mich auszusteigen.

„Oh my good, ist das wirklich deine Hütte?“, staunte ich beim Anblick dieses urgemütlichen Anwesens, das nur einen Steinwurf vom legendären Sunset Strip entfernt inmitten eines verwilderten Gartens lag. Es war so anders als die protzigen Villen, die ich auf dem Weg gesehen hatte. Von „Hütte“ konnte natürlich keine Rede sein. Vielmehr handelte es sich um ein weitläufiges L-förmiges Gebilde, das über zwei Stockwerke verfügte.

„Such dir ein Zimmer aus, mach’s dir gemütlich and stay as long as you want! Für dein Wohl ist gesorgt und wenn dir etwas fehlt, lass es mich wissen. Ich muss leider nochmal in die Praxis. Bis später dann.“

Als wäre das nicht schon fantastisch genug, stellte Frank mir auch noch seine Vespa zur Verfügung, damit ich die faszinierende Stadt völlig unabhängig erkunden konnte. Obwohl man eigentlich nicht von einer Stadt im herkömmlichen Sinne sprechen kann. L.A. ist vielmehr wie eine endlos lange Ansammlung verschiedener Viertel, die nahtlos wie Perlen aneinandergereiht sind.

Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts zog es die G‘spickten nach St. Tropez, Cannes oder Cap Ferrat, aber Acapulco…? Dabei war der mexikanische Badeort längst zum mondänen Zweit- oder Drittwohnsitz amerikanischer Showgrößen aufgestiegen. Aber diese Information war bis dahin bestenfalls zu weitgereisten Insidern durchgedrungen. Die Neue Welt erschloss sich Europäern, wenn überhaupt, in Filmen und kitschigen Familienserien aus Hollywood.

Einschlägige Medien, die bildgewaltig über Glam und Gloria tratschten, beschränkten sich vornehmlich auf miefige Königshäuser, Fernsehmoderatoren und heimische Schlagergrößen wie Peter Kraus, Cornelia Froboess und Freddy Quinn. Damals galt es keineswegs als Fauxpas, die bunten Klatschblätter am Kiosk zu erwerben. Man las derartiges Material nicht verschämt beim Friseur oder Zahnarzt, sondern offensiv im Café oder im Park. Anschließend reichte man das kostbare Druckwerk an Nachbarn und Angehörige weiter, bis es ein wenig zerfleddert auf einer häkeldeckchengeschützten Anrichte endete, auf der bereits ein Stapel dieser Publikationen weiterer Verwendung entgegenharrte.

Nun war ich also in Acapulco, das bisher Terra incognita für mich gewesen war. Die Bucht galt als Taucherparadies. Ich war so entzückt, dass ich gleich nach meiner Ankunft eine Unterwassertour buchte. Frank ließ sich dazu nicht überreden: „No my friend, das machste ma schön alleine. Ich habe Probleme mit den Ohren. Wir sehen uns dann später auf eine eisgekühlte Margarita. Ich warte am Pier auf dich.“

Für mich war das eine Ausrede. Er brachte mich zur Station und ich vertraute mich den einheimischen Tauchern an. Wie sich herausstellte, war Frank kein Unbekannter für sie. Flüsternd erteilte er ihnen Anweisungen, die ich nur eingeschränkt verstand. Sie lauteten in etwa so: „Please show my friend from good old Germany a really nice giant octopus. You know what I mean.“ Dabei zwinkerte er verschwörerisch mit den Augen.

Das Tauchen war kein Neuland für mich, denn ich hatte in meiner Jugend zahlreiche Gelegenheiten genutzt, mich mit dieser Disziplin vertraut zu machen, wenngleich in der Regel in Süßwasser. Das hier war eine andere Baustelle. Dass ich keinen Tauchausweis vorlegen konnte, war das kleinste Problem. Ich besaß einen, hatte ihn aber schlicht nicht mitgenommen, weil ich nicht damit rechnete, plötzlich die Tiefen des Pazifiks zu erkunden. Ein wenig schummrig war mir schon, als ich mir den Taucheranzug überstreifte, ein Tarierjacket darüber, das via Schlauch mit der Tauschflasche verbunden wurde und anschließend den schweren Bleigürtel um meine Leibesmitte legte. Das nahm viel Zeit in Anspruch und als ich endlich Maske und Brille auf dem Kopf und Flossen an den Füßen hatte, platschte ich hinter meinem Leittaucher ins warme Nass.

In einer Tiefe etwa zehn Metern wurde es plötzlich dunkel, obwohl die Sonne schien und ihre Strahlen durch das glasklare Wasser drangen. Die Dunkelheit wurde ausgelöst durch einen Schwarm von vier stattlichen Mantas, die zwei Meter über uns gemächlich ihre Bahnen zogen. Der größte von ihnen hatte einen mannshohen Durchmesser. Als es über uns wieder hell wurde, zeigte mir mein Begleiter eine Madonna, die im Meer versenkt worden war, um Taucher zu beschützen. Die gigantischen Oktopoden, die Frank angefordert hatte, hielten sich leider verborgen. Aber vielleicht gab es diese Riesenkraken in diesem Gewässer ja gar nicht. Wer weiß? ...

… Vorsorglich hatte ich bei Ankunft in San Francisco am Airport einen üppigen Strauß roter Rosen gekauft und den Koffer im Schließfach geparkt.

Jane Rosenberg lebte in der 19. Etage eines beeindruckenden 23-stöckigen Wolkenkratzers mit phänomenaler Aussicht auf die Stadt. Frank hatte nicht übertrieben. Jane war tatsächlich eine Augenweide. Als sie mir die Tür zu ihrem Appartement öffnete, war ich erst einmal überwältigt vom Anblick der langbeinigen Amazone, die mindestens doppelt so alt war wie ich. Sie trug einen enganliegenden rosa Schlauch, der ihrer Stromlinienform schmeichelte. Der Ausschnitt der bonbonfarbenen Kreation war gewagt. Und obwohl sie zu Hause war, steckten ihre ziemlich großen Füße in hochhackigen Sandalen, natürlich ebenfalls plüschrosa. Ihr braunes Haar hatte sie modisch aufgetürmt. Mit der Zuckerwatte auf Ihrem Kopf überragte sie mich um gefühlt zehn Zentimeter. Als sie bemerkte, dass ich sprachlos auf ihr Dekolleté starrte, lachte sie: „Du bist also der berühmte Hotelier aus Deutschland, der den Italienern zeigt, wie Gastfreundschaft buchstabiert wird. Komm rein und mach‘s dir bequem. Was darf ich dir zu trinken bringen? Einen Scotch oder etwas Leichteres?“

Ich hatte bis dahin außer einer Begrüßung nichts zur Interaktion beigesteuert. Als ich in das weiche Riesensofa versunken war, stammelte ich: „Ich trinke das Gleiche wie du, was immer es ist. Ich bin übrigens kein berühmter Hotelier, sondern leite lediglich ein kleines Haus an der Adria.“

„Ach, da hat Frank mal wieder gehörig übertrieben. Ist das bei Venedig?“ Sie hatte mir gegenüber auf einem grünen Samtsessel Platz bezogen und zog eine Zigarette aus einer silbernen Box, die sie mir hinhielt, damit ich ebenfalls zugriff. Ich lehnte dankend ab. Nachdem ich ihr Feuer gereicht hatte, sprang sie auf und stolzierte hoch erhobenen Hauptes Richtung Küche. Ich nutzte die Zeit, mich umzusehen. Das Wohnzimmer entpuppte sich als spartanisch dekorierter Saal. An den Wänden hingen quietschbunte abstrakte Gemälde, die sich mit den wenigen Bauhausmöbeln – mit dem Bauhaus kannte ich mich inzwischen aus – zu einem avantgardistischen Ensemble vereinigten. Das Beeindruckendste allerdings war das Fenster, das eine ganze Seite einnahm. Ich stand auf und blickte auf die Stadt, die ihren spanischen Namen Franz von Assisi verdankte. Schon wieder ein Italiener!

Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass sich ein Tier auf mich zubewegte. Mir stockte der Atem. Dieses Geschöpf war kein possierliches Haustier, sondern ein ausgewachsener Gepard. Ich wagte nicht, mich zu bewegen und hoffte inständig, dass die Raubkatze bereits gefrühstückt hatte.

Endlich kehrte Jane zurück mit einem Tablett, auf dem die beiden Drinks und eine mit Wasser gefüllte Vase standen. Sie schien nicht besonders überrascht ob des ungebetenen Gastes. Seelenruhig stellte sie die Gläser ab, gab die Blumen in die Vase, nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und ließ sich wieder auf grünem Samt nieder. Sie forderte mich auf, es ihr gleichzutun und mich ebenfalls zu setzen. Ich kam der Bitte schweigend nach, denn mir versagte die Stimme. Jane nahm einen großen Schluck Whisky und erklärte ungerührt: „Offenbar habe ich vergessen, die Schlafzimmertür zu schließen. Du musst keine Angst haben. Johnny ist gut erzogen, er weiß, was sich gehört.“

Da war ich mir nicht so sicher. Als ich bibbernd auf dem Sofa saß, trabte Johnny in Richtung Glastisch. Zögernd blieb er davor stehen, als überlegte er, wie er mich mageres Kerlchen am besten einverleiben konnte, in einem Stück oder als Gulasch. Plötzlich biss er alle Rosenköpfe von den Stängeln ab und spukte sie auf den hellen Teppich. Der sah hinterher aus wie nach einem Blutbad, allerdings war außer den Rosen niemand zu Tode gekommen. Als Johnny sein zerstörerisches Werk beendet hatte, schenkte mir seine Majestät noch einen verächtlichen Blick, drehte sich um und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

Jane sprang auf und schloss die Tür hinter ihm. „Danke, dass du nicht in Panik ausgebrochen bist, obwohl Johnny deine schönen Blumen vernichtet hat. Es tut mir leid.“ Als ob es um Blumen gegangen wäre! Nachdenklich fuhr sie fort, „naja, ich glaube Johnny wollte dir mit dieser Geste kundtun, dass ihm die Rosen nicht gefallen haben. Vielleicht war er auch wenig eifersüchtig. Wer weiß das schon?“ Ich trank meinen Scotch in einem Zug aus und verabschiedete mich hastig von meiner kapriziösen Gastgeberin, denn fürs Erste hatte ich genug von eifersüchtigen Mitbewohnern, die abgebissene Rosenköpfe auf teure Auslegware spucken.

Ob Frank davon gewusst hatte? Vermutlich war ihm auch schon einmal das zweifelhafte Vergnügen zuteilgeworden, Johnny kennenzulernen …

Auszüge aus Kapitel 20

Goldjungs

… Eines Abends vertraute uns mein Namensvetter Wolfgang an, dass er von einem alten Freund eine interessante Insider-Information erhalten habe. Mit gesenkter Stimme – damit niemand an den Nebentischen etwas mitbekam – erzählte er Ungeheuerliches: „Stellt euch vor, ein amerikanischer Marine-Offizier, der momentan in Fernost auf einer US-Basis stationiert ist, behauptet, es gäbe da ein von der amerikanischen Marine versenktes Schiff, auf dem die unvorstellbare Menge von fünf Tonnen Goldbarren lagert.“

„Das glaubst du doch selbst nicht!“, prustete es aus mir heraus, bevor ich über den Tischrand gebeugt leise fortfuhr: „Woher hast du überhaupt diese Info?“

Wolfgang hob seinen Zeigefinger an den Mund, sah sich vorsichtig um und erklärte dann: „Von einen gewissen Mr. Morris, einem Navy Offizier, der unfreiwilliger Teilnehmer einer fragwürdigen Aktion war. Unter Androhung der Versenkung eines Schiffes, dessen Eigentümer offenbar nicht die japanische Marine, sondern nipponesische Piraten waren, wurden Roh- und Wertstoffe konfisziert und auf ein amerikanisches Frachtschiff umgeladen. Die kostbare Ladung umfasste angeblich zwanzig Tonnen Kautschuk, zehn Tonnen Silberbarren und fünf Tonnen Goldbarren.“

„Oh…“, murmelten wir unisono angesichts dieser Menge sowie der Brisanz der Story. Mehr fiel uns in diesem Moment nicht ein, denn wir wollten Wolfgangs Redefluss nicht unterbrechen.

„Mr. Morris landete anschließend mit seinem Schiff an der Ostküste Vietnams, in Dien Chau am Golf von Tonkin im südchinesischen Meer. Einen Teil der gekaperten Ware haben sie auf vier Armeelaster umgeladen und diese wiederum wurden vom Marineschiff etwa dreißig Meter ins Meer gezogen, wo sie schon beim Eintauchen ins Wasser flugs versanken. Das Marineschiff entfernte sich insgesamt etwa fünfzig Meter vom Strand und öffnete anschließend die Meerwasserluken, damit es auf den Meeresboden in ungefähr zwanzig Meter Tiefe absank. Die höchsten Schiffsaufbauten ragten danach gerade noch um die acht Meter aus dem Wasser. Laut Mr. Morris hat es einige tödliche Unfälle bei diesen Manövern gegeben. Der Rest der Besatzung einschließlich Offizieren war auf fünf Überlebende geschrumpft.

Also um es kurz zu machen, Mr. Morris wandte sich an mich, weil er Klaus in Brasilien kennen und schätzen gelernt hatte. Mein Bruder hatte mich empfohlen, weil Mr. Morris jemanden brauchte, dem er vertrauen konnte und der in der Lage war, die Bergung des Schatzes mit dem nötigen Mut und finanziellem Background zu organisieren.“

Um das eben Gesagte zu unterstreichen, zog Wolfgang ein Kuvert aus seiner Jackentasche und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Es handelte sich um unscharfe Schwarzweißfotos, die angeblich Mr. Morris und ein paar Marines vor einem Schiff zeigten. Ob es sich um das versunkene Objekt handelte, war nicht auszumachen.

Wolfgang lehnte sich bedeutungsschwer zurück und fragte dann ganz ungeniert: „Nun, was haltet ihr davon? Wer von euch würde sich an so einer Aktion aktiv und natürlich auch finanziell beteiligen?“

Unsere Runde bestand an diesem Abend aus dem Initiator Wolfgang Bennecke, seinem Bruder Klaus, Benno von Breunig, Georg von Breunig, Dieter Bakic, Horst Ackermann und meiner Wenigkeit. Ich wagte zu fragen, wie Wolfgang sich das Ganze vorstellte. „Nun ja, der Plan wäre, in Vietnam – möglichst nicht zu weit entfernt von unserem Zielort – ein Schiff zu kaufen, groß und stabil genug, um es mit 35 Tonnen Material zu beladen, ohne Gefahr zu laufen, dass es absäuft. Auf das Boot lassen wir motorisierte Ladekräne montieren, falls diese nicht bereits vorhanden sind.“ Wolfgang nahm einen großen Schluck Riesling, um uns eine kleine Denkpause zu gönnen, und erklärte: „Damit wir während der Hebung unseres Goldschatzes keine Schaulustigen, Polizei, Küstenwache oder ähnliche unerwünschte Gäste anlocken, würde ich vorschlagen, im Hinterland ein Volksfest mit viel Alkoholika, Musik, Tanz und weiteren Zerstreuungen zu organisieren. Mit etwas Bakschisch kriegen wir es dann auch noch hin, den Abschnitt der Küstenstraße, die den Blick auf unsere Aktion freigibt, auf einer Länge von fünf Meilen zu sperren.“

Als Wolfgang unsere ratlosen Blicke bemerkte, lachte er aufmunternd: „Sobald wir absehen können, dass die Bergung perfekt vorbereitet und organisiert ist, treten wir mit Banken in Thailand in Verhandlungen bezüglich Verkaufs des gehobenen Materials. Ich habe dazu schon einige solvente Geldhäuser im Visier, die auf solche Deals geradezu erpicht sind.“

Benno wandte ein: „Ja, was soll uns der Spaß denn kosten? Außer deinen komischen Fotos haben wir überhaupt keine Belege für das Vorhandensein dieses ominösen Schiffes mit seinen prall gefüllten Armee-Lastern.“ Es war nicht verwunderlich, dass gerade Benno diesen Aspekt angesprochen hatte. Er guckte stets aufs Geld.

„Sei doch froh, dass es keine Beweise gibt! Denn gäbe es sie, würden noch ganz andere Glückskadetten auf den Plan treten. Wie sagt man so schön: No Risk, No Fun. Aber im Ernst, ich rechne mit einem Aufwand von 150.000 Mark. Eine lächerliche Summe, wenn wir sie unter uns allen aufteilen."

Ich fand, dass das zwar wirklich nicht viel war, wenn man bedachte, welch bemerkenswerten Gewinn diese Investition versprach, aber das Ganze stand doch auf recht wackeligen Beinen und das sagte ich auch. „Was ist eigentlich mit deinem Tipp-Geber? Der möchte doch sicher auch in irgendeiner Form beteiligt werden. Hast du mit ihm schon über seine Prämie gesprochen?“
„Noch hat er keine Summe genannt, aber mit einem herzlichen Dankeschön wird er sich vermutlich nicht zufriedengeben.“
Merkwürdig, dass diese Frage bisher nicht geklärt war. Fürs Erste einigten wir uns darauf, dass Georg von Breunig sich – weil finanztechnisch etwas schwach auf der Brust – physisch in dieses Abenteuer mit ungewissem Ausgang einbringen sollte. Wer für was aufkommen sollte, entschied letztlich Wolfgang Bennecke, der mit dem geheimnisvollen Mr. Morris in regem Austausch stand. Angeblich befand sich unser Informant irgendwo in Vietnam oder Lagos oder wer weiß wo auf einer US-Basis.

Nach unserer Zusage beauftragte Herr Morris – seinen Vornamen hat Wolfgang uns leider nicht verraten – seine Kollegen, in den Häfen von Vietnam, Kambodscha und Thailand nach einem entsprechenden Frachter zu suchen, der unseren Anforderungen entsprach. Kurze Zeit später trafen erste Angebote bei unserer grauen Eminenz in der Rümannstraße ein. Zur persönlichen Inaugenscheinnahme flog Mr. Morris durch halb Südostasien und klapperte diverse Häfen ab. Nach Wochen bangen Wartens traf endlich die erlösende Nachricht ein, dass er ein geeignetes Schiff in Hongkong gefunden hatte. Es sollte etwa 75.000 US-Dollar kosten. Ob dieser Preis angemessen war und wieviel es tatsächlich gekostet hat, haben wir nie erfahren und wahrscheinlich auch unser Wolfgang nicht.

Nach Überweisung des veranschlagten Kaufpreises vergingen weitere drei Monate, bis Mr. Morris uns Bilder von dem umgebauten Frachter übermittelte. In der Post mit den Fotos lag auch ein langer Brief, in dem er uns bat, einen aus unserer Gruppe nach Hongkong zu schicken, um den Frachter zu begutachteten und anschließend bis zum Hafen von Dien Chau zu begleiten. Eine weitere Aufgabe bestand darin, den Fortgang der Bergung zu überwachen und uns über den Fortschritt auf dem Laufenden zu halten. Dieser Jemand war ja bereits bestimmt worden und so machte sich Georg auf die Reise. Unser Auserwählter besaß den unschätzbaren Vorteil, über ein nahezu unbegrenztes Zeitbudget zu verfügen, denn er ging selten einer bezahlten Tätigkeit nach. Glücklich war er nicht über die Aussicht, in den „Krieg“ ziehen zu müssen, wie er es flapsig ausdrückte.

Inzwischen waren die letzten Wochen des Sommers angebrochen. Das bedeutete für mich, dass ich in Kürze unser letztes noch in Betrieb stehendes Hotel in Milano Marittima saisonbedingt schließen würde. So war es nur logisch, dass Benno vorschlug, dass wir uns ebenfalls auf den Weg nach Südostasien machen sollten. Ich gab ihm recht. Denn sollten wirklich mehr als fünf Tonnen Gold gehoben werden, mussten wir Mittel und Wege finden, es mit größtmöglichem Ertrag loszuschlagen. Ich gab Wolfgang recht, dass wir uns in diesem Falle mit Bankmanagern vor Ort treffen mussten, denen wir die heikle Ware verhökern konnten.

Benno warf einen weiteren wesentlichen Punkt in die Diskussion: „Ich denke, wir sollten unsere Frauen mitnehmen, damit unser Aufbruch nicht unnötig die Neugierde zurückgebliebener Bekannter weckt. Du weißt ja, wie das ist. Wenn ein paar Kerle miteinander verreisen, lässt das die Gerüchteküche brodeln, vor allem dann, wenn sie in Richtung Asien düsen. Ich sage nur ‚Kegelverein‘.“
„Aha. Aber du hast sicher recht, dass es etwas komisch aussieht, wenn wir gestandenen Kerle gen fernen Osten aufbrechen. Aber wie verkaufen wir diese Tour unseren besseren Hälften?“

„Ist doch ganz einfach!“ Benno grinste und fuhr ungerührt fort: „Wir laden sie zu einer Urlaubsreise ein. Sie werden so begeistert sein, dass sie gar nicht weiter fragen, was das Ganze soll.“

So überzeugt wie er war ich leider nicht. Ich kannte meine Frau. Mit Benno einigte ich mich, dass wir in Vietnam erst einmal nicht zur Bergungsstelle am Hafen von Dien Chau fuhren. Das erschien sinnvoll, weil es 1975 so gut wie keine Hotels und folglich auch keinen Tourismus gab, der diese Bezeichnung verdient hätte. Die Anwesenheit bleicher Europäer wäre unnötig aufgefallen. Es bestand schlicht keine Notwendigkeit, diesen Hafen aufzusuchen. Stattdessen war vorgesehen, dass das Schiff in Richtung Bangkok ablegen sollte, sobald die zwanzig Tonnen oder ein Großteil davon geladen waren. Dort wollten wir dazustoßen. So jedenfalls lautete die grobe Absprache mit Wolfgang, Klaus Bennecke und Mr. Morris. Die endgültige Entscheidung darüber sollte getroffen werden, sobald wir Nachrichten von Georg erhielten, der in den nächsten Tagen nach Hongkong fliegen würde, um dort auf der Azuma anzuheuern.

Entsprechend dieses vorläufigen Plans buchte ich in Absprache mit Benno unsere zehntägige Reise nach Bangkok mit unseren Frauen Tessa und Bärbel im Schlepptau. In der Hauptstadt wollten wir Kontakt zu zwei thailändischen Großbanken aufnehmen, um unsere Verkaufsabsichten zu offenbaren. Wie wir uns diese Verhandlungen vorstellten, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht verifizieren. Ich vertraute einfach auf Bennos Verhandlungsgeschick. Er war ein begnadeter Verkäufer, wenngleich dieses Talent sich bis dahin auf den Absatz von IBM-Computern beschränkt hatte.

Vor unserer Abreise galt es natürlich noch, unseren lieben Georg auf seine anspruchsvolle Aufgabe in Hongkong vorzubereiten. Dieses Ansinnen gestaltete sich als Herkulesaufgabe, denn Georg zeigte sich wenig willens, die Vorhut unserer Aktion zu bilden. Wir redeten mit Engelszungen auf ihn ein, erklärten ihm alles wie einem begriffsstutzigen Kind und bereiteten ihn auf alle Eventualitäten und mögliche Überraschungen vor. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Aufgaben, die wir ihm zugedacht hatten, aber willigte schließlich mangels Alternativen – sprich mangels Geldes – ein. …

Auszüge aus Kapitel 3

1953-1954, Wilde Nächte in Paris

Eines Tages wurde ich zum Abendessen von Nathalies Mutter Madeleine ins Quartier du Montparnasse eingeladen. Als ich der Dame des Hauses beim Eintreten galant einen Blumenstrauß überreichte, eröffnete sie mir, dass ihre Tochter aushäusig sei. Auch Herr Kaplan glänzte durch Abwesenheit.

Merkwürdigerweise hatte ich nichts dagegen, den Abend allein mit Frau Kaplan zu verbringen, die in ihrem moosgrünen Samtkleid mit dem fast nabeltiefen Ausschnitt hinreißend aussah. Versonnen starrte ich ihr hinterher, wenn sie mit verführerischem Beckenschwung auf ihren hohen Absätzen in die Küche entschwebte, um Nachschub zu holen. Und sie holte oft Nachschub, denn sie wusste sehr genau um die Wirkung ihrer wogenden, schmalen Hüften. Bei der Rückkehr tätschelte sie mir stets wie unabsichtlich die Wange. Die gestreichelte Seite fühlte sich jedes Mal an wie ein Krapfen, der in heißem Öl gewendet wurde.

Wir löffelten Foie Gras aus papierdünnen Porzellanschälchen, verlustierten uns an Coq au Vin und tranken kristallkübelweise Champagner. Derweil lauschte ich meiner attraktiven Gastgeberin, die mir mit gelöster Zunge eine kleine Lektion in französischer Weltliteratur erteilte und sich längst nicht mehr bemühte, den heruntergerutschten Träger ihrer dunkelgrünen Versuchung in seine ursprüngliche Position zu ziehen. Insgeheim ging ich davon aus, dass sie auf dem Weg zur Küche ein paar Knöpfe geöffnet hatte, damit ihr dieses raffinierte Malheur passierte. Während ich wie gebannt auf die spitzenbesetzte Seide blickte, die unter dem Kleid hervorlugte, erfuhr ich zum ersten Mal von Albert Camus, Jean-Paul Sartre, seiner Geliebten Simone de Beauvoir, Jean Cocteau, Édith Thomas und Boris Vian. Die meisten dieser Persönlichkeiten kannte Madeleine persönlich. Mir fehlten wieder einmal die Worte, aber was hätte ich auch zu diesen Exkursionen in die Hochkultur à la française beitragen können? Sie erzählte mir von den Schrecken des Krieges und der entfesselten Euphorie, die die Seine-Metropole nach der Befreiung erfasst hatte.

Mit zunehmendem Trinkgenuss löste sich die physische Zurückhaltung und so landeten wir – wenig überraschend – nach dem in jeder Hinsicht anregenden Dinner in einer Nebenkammer der großen Wohnung. In dieser befand sich eine schmale, brettharte Liegestatt, die der Romantik nicht zuträglich und der Situation nicht angemessen war. Aber das störte nicht, als wir übereinander herfielen wie Verdurstende über eine Wasserstelle in der Wüste. Der Herr des Hauses schien seine anbetungswürdige Frau ziemlich vernachlässigt zu haben.

Zwangsläufig endete meine Beziehung zu Nathalie nach diesem lustgeschwängerten Dessert in der elterlichen Besenstube. Meine reife Geliebte sorgte dafür, dass Nathalie und ich uns fortan so gut wie nicht mehr über den Weg liefen. Angesichts meines neuen Beziehungsstatus kam mir dieser Modus Operandi sehr gelegen. Ein wunderbarer Nebeneffekt meiner verruchten Liaison mit Madeleine war, dass ich nun mit diesem Teufelsweib Nacht für Nacht durch Paris schwirrte und völlig neue Seiten dieser Stadt kennenlernte. Dieses andere Paris war eine verwegene Mischung aus privaten und öffentlichen Clubs, verschwiegenen Lesben- Trans- und Homolokalen, düsteren Bars und produktiven Sessions mit Künstlern und Existenzialisten, die Madeleine größtenteils seit ihrer Jugend kannte. Am liebsten frequentieren wir den Jazzclub Le Tabou in der Rue Dauphine. Der Rest ihrer schillernden Bekanntschaften entstammte Einladungen, die sie mit ihrem Gatten Monsieur Kaplan, einem renommierten Chirurgen, wahrgenommen hatte. Er lebte zwischenzeitlich getrennt von seiner Frau, näher bei seiner Klinik, um in Notfällen schneller vor Ort sein zu können.

Meines Erachtens war dies ein Vorwand, denn auch er hatte offenbar Bedürfnisse, die seine Angetraute nicht befriedigen konnte oder wollte. Ich sprang gerne für ihn ein und betrachtete das Ganze als profitables Arrangement für alle Beteiligten.

Meine verehrte Mutter würde sich noch heute im Grabe umdrehen, hätte sie gewusst, wie ihr halbwüchsiges Söhnchen seine Nächte im verruchten Paris durchbrachte.

Während meiner „maladen“ Abwesenheit hatte Madeleine unzählige Pläne geschmiedet, wohl wissend, dass ich nur noch wenige Wochen in Paris weilen würde. Meine Arbeitsbewilligung endete am 28. Februar und das bedeutete, dass ich auch meine ungeliebte Behausung aufgeben musste.

Ja, was soll man sagen? Das Erste, womit Madeleine mich überraschte, als wir uns wiedersahen, war eine entzückende kleine Wohnung in einer schmalen Seitenstraße des Boulevards des Maréchaux in der Rue Albert Sorel. Dieses Appartement nannte sie bereits seit ihrer Studienzeit ihr Eigen. Sie bot mir an, dort einzuziehen, sobald ich meine Zelte in Stalingrad abgebrochen hatte. Meinem sehnlichen Wunsch, das europäische Epizentrum der Lebensfreude nicht allzu bald verlassen zu müssen, kam dieser Vorschlag äußert gelegen. Natürlich war ich mir bewusst, dass Gegenleistungen körperlicher Art von mir erwartet wurden, denen ich selbstredend gerne nachkam. Der besondere Reiz meiner lustbetonten Aktivitäten bestand darin, dass uns ein Altersunterschied von achtundzwanzig Jahren trennte. Damit war sie fast dreimal so alt wie ich. Warum ich das so aufregend fand, ist leicht zu erklären. Meine Lehrmeisterin verfügte über ein opulentes Arsenal an Erfahrungen und das teilte sie auf das Phantasievollste mit mir. Ich war ein gelehriger Schüler, bereit für alles – und „alles“ meinte wirklich Alles! Diese Vorliebe für reife Früchte teilte ich mit zahllosen Geschlechtsgenossen, die in ihrer Jugend danach trachteten, die besten Freundinnen ihrer Mütter zu verführen oder davon träumten, wenn ihnen dieser Genuss verwehrt blieb.

Der 26. Februar 1953 markierte meinen letzten Arbeitstag. In Anbetracht dessen lud ich meine geschätzte Kollegin Gisèle zu einem Dankeschön-Dinner ein. Für den Anlass wählte ich ein kleines bezahlbares, sehr gemütliches Restaurant, das mir perfekt geeignet schien, meine Wertschätzung für ihre Hilfe in den letzten drei Monaten angemessen auszudrücken. Ohne Gisèles Unterstützung hätte ich es nicht geschafft, all die Behördengänge und Erledigungen zu bewältigen. Sie wusste um meine erbärmlichen Sprachkenntnisse und hatte diskret alle Hürden aus dem Weg geräumt, die sich mir in dieser Hinsicht in den Weg stellten. Stets hatte sie komplexe Aufträge und Anordnungen aus dem Zentralbüro mundgerecht für mich aufbereitet und mir so den Zorn des „Alten“ aus der Opernstraße vom Leib gehalten. Zum Abschied umarmten wir uns. Das blieb die einzige körperliche Interaktion, die wir uns gestatteten. Meine liebe Freundin war seit einiger Zeit verlobt und plante, in Kürze zu heiraten.

Im März hatte ich endlich einen eigenen Schlüssel und damit den völlig unabhängigen Zugang zu meinem Luxus-Refugium. Plötzlich konnte ich so lange schlafen, wie ich wollte, was vonnöten war, denn die Abende und Nächte waren weiterhin anstrengend. Abgesehen davon, residierte ich jetzt in einem ganz anderen Paris, einem eleganten, gepflegten, das dem nahekam, was ich mir bei meiner Ankunft so farbenprächtig ausgemalt hatte. Der Unterschied hätte nicht größer sein können, obwohl es gerade einmal sechs Kilometer waren, die Sumpf und Seide trennten.

Sogar die Sprache war eine andere. Madeleine flanierte nun auch tagsüber mit mir durch die Stadt und knutschte ganz ungeniert mit mir in der Öffentlichkeit. Weil mir der Status des kindlichen Gigolos ein wenig peinlich war, trug ich nun stets eine Sonnenbrille, die mein bleiches Antlitz verbergen sollte. Madeleine fand das witzig und trug fortan ebenfalls dunkles Glas über ihren lidschattenumränderten Augen, übrigens auch nachts. Der Gipfel der Verruchtheit! Wenn wir uns dann noch Gauloises Brunes ohne Filter zwischen die Lippen schoben, fühlten wir uns wie Berühmtheiten, die inkognito unterwegs waren.

Dabei waren wir nur gewöhnliche Ehebrecher, die generationsübergreifend agierten. In den verräucherten Kellern, in denen wir in Gesellschaft musenbeleckter Gestalten Rotwein schlürften, bildeten wir mit unseren existentialistischen Augendeckeln keine Ausnahme. Alle sahen irgendwie aus, als seien sie in geheimer Mission unterwegs und jeder, der auf sich hielt, trug Schwarz. Rabenfarbene Rollkragenpullover waren die Uniform der Bohème und Intelligenzija und so war es wenig verwunderlich, dass auch wir uns nihilistisch gewandeten. Madeleine sorgte für die stilgerechte Ausstattung in Premium-Qualität.

Zur Premiere meiner ersten Nacht in der Rue Albert Sorel war Madeleine von ihrer etwas jüngeren Freundin Édith Piaf zu einem Aperitif eingeladen worden. Ich durfte meine Geliebte begleiten und fand mich in einem äußerst bescheidenen Appartement wieder. Der Mangel an Luxus wirkte auf mich befremdlich, denn er stand im krassen Gegensatz zum Superstar-Status der Piaf. Madeleine bemerkte meine Irritation. Sie zwinkerte mir schelmisch zu, als wir einander zuprosteten.

Darüber hinaus haben wir an dem Abend wenig gelacht. Die Chansonette, frisch verheiratet mit dem Sänger Jacques Pills, verbreitete eine depressive, traurige und bekümmerte Stimmung. Es schien, als ob eine düstere Wolke über ihr schwebte, die jegliche Farbe absorbierte, und eine zentnerschwere Last sie zu erdrücken drohte. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass sie sehr klein war, geradezu winzig. Nicht umsonst trug sie den Titel „Spatz von Paris“, denn sie wirkte wie ein hilfsbedürftiges Vögelchen, das sich in den Wildwuchs einer Großstadt verirrt und Angst vor Nachbars Katze hatte. Später lernte ich mit Juliette Gréco das Gegenmodell kennen. Diese außergewöhnliche Künstlerin war nicht nur körperlich eine völlig andere Erscheinung, sie war auch witzig, spritzig, klug und charmant.

Natürlich besuchte ich mit meiner schicken Freundin auch das legendäre Olympia am Boulevard des Capucines im 9. Arrondissement, das Bruno Coquatrix nach nachkriegsbedingter Renovierung vor kurzem wiedereröffnet hatte. Auch Édith trat dort auf und meckerte ihre düsteren Lieder, die meine Laune regelmäßig in das Souterrain beförderten. Tatsächlich war es ein Meckern und kein Heulen, Klagen oder gar Singen. Madeleine hingegen liebte La Vie en rose.

Mit Beginn des Frühlings trennte ich mich schweren Herzens von der Stadt, die mir so viel gegeben hatte. Vier Monate hatte ich mich mit Verve in das pralle, feingeistige Leben gestürzt und nun kehrte ich zurück in die finsterste Provinz. Mondäne Metropole gegen miefige Kleinstadt, Chanel No. 5 gegen Kartoffelsuppen-Odeur. Federleichtes Kaschmir gegen mausgraue Kratzwolle. Sogar le look noir von Paris wirkte strahlend und leuchtend gegen die nasskalte Asphalttristesse, der ich nun anheimgefallen war. Auch wenn es nur eine kurze Zwischenstation zu Hause war, konnte ich kaum tiefer stürzen. Mich erfasste eine Stimmung, die sich am besten als „La Piaf in Endlosschleife“ beschreiben ließ.

Auszüge aus Kapitel 15

Acapulco, Rendezvous mit Ava Gardner und „Die Adabeis“

Vermutlich war ich der größte Fan, der jemals Ava Gardner angehimmelt hat. Das kam daher, dass ich sie ein paar Jahre zuvor in Sevilla getroffen hatte. Derart hingerissen von der damals „schönsten Frau der Welt“, lud ich sie spontan zum Dinner in das feinste Restaurant der Stadt ein. Woher ich die Chuzpe nahm, ist mir bis heute schleierhaft. Vermutlich war sie über meinen forschen Vorstoß genauso verblüfft wie ich. Ein gewöhnlicher Sterblicher, der die Frechheit besaß, Ihrer Majestät, ungekrönter Königin Hollywoods einen romantischen Abend bei Kerzenlicht anzutragen. Aber oh, wie sie meinen gewagten Vorstoß damals ignorierte! Das Staubkorn, auf das sie nicht einmal mit ihrem polierten Schuhabsatz treten würde.

Aber so sollte es nicht bleiben. Im Winter 1967 ergab sich anlässlich unseres alljährlichen Aufenthalts in Mexiko eine weitere Gelegenheit und dieses Mal wollte ich zum Zuge kommen. Zufällig traf ich die „Barfüßige Gräfin“ und ihre Mutter Molly in einem der vornehmsten Nachtclubs Acapulcos, dem legendären Baby‘O. Die Damen saßen alleine an der Bar und erregten keinerlei Aufmerksamkeit. So ganz stimmte das natürlich nicht, denn ich ergriff die Gelegenheit und pflanzte mich neben Mrs. Gardner Senior auf den Barhocker. Offenbar war Mutter und Tochter so fad, dass sie sich sogar von einem Nobody, einem „Staubkorn“ aus dem schnöden Europa zu einem Drink einladen ließen. Da sie bereits im Aufbruch gewesen waren, verabredeten wir uns auf einen weiteren Cocktail für den nächsten Abend. Ich war verzückt. Endlich durfte ich meiner Angebeteten ganz nahekommen.

Natürlich warf ich mich für das Jahrhundertereignis in Schale und erntete misstrauische, aber auch belustigte Blicke meiner Frau. Seit kurzem war ich zum zweiten Mal verheiratet. Meine neue Ehefrau war das attraktive Mannequin, das ich mit meiner Schwester in New York kennengelernt hatte.

„Was hast du vor? Hat man dich zum Casting für Oberkellner eingeladen? Du riechst wie ein Eintänzer aus der Peripherie und so siehst du auch aus. Pass auf, dass du dir beim Aufpinseln der Pomade keine Flecken aufs blütenweiße Hemd kleckerst.“
Ihre Beleidigungen lächelte ich tapfer weg. „Du musst es ja wissen, Liebling. Danke für den freundlichen Hinweis. Was eigentlich hast du vor mit deinem Outfit, das mit weniger Stoff auskommt als deine Frisur mit Haarspray?“

Bärbel schmunzelte spitzbübisch. „Meine Freundinnen und ich gönnen uns heute eine Mädels-Sause und lassen uns von glutäugigen Mexikanern bestaunen und vielleicht auch anbaggern. Wer weiß?“

„Naja, warum nicht? Besser, als sich von feisten, schwitzenden Amis in billige Hotelzimmer abschleppen zu lassen.“

Mit zittrigen Fingern knotete ich mir meine erdbeerrote Krawatte um den Hals, küsste meine schöne Frau zum Abschied und machte mich auf den Weg zu meiner Jahrhundertverabredung.

Leider verlief das Rendezvous nicht wie erhofft. Genaugenommen endete es desillusionierend. Die umschwärmte Diva war inzwischen 45 Jahre alt und trug die Spuren langjähriger Alkoholsucht unübersehbar in ihrem einst so makellosen Gesicht. Unter ihren dunklen Augen, die längst von schweren Lidern verhangen waren, fristeten schwere Tränensäcke ein ungeliebtes Dasein. Sie wirkte müde und abwesend, aber das war nicht das Schlimmste. Schlimmer war die Anwesenheit ihrer blümchengewandeten Begleiterin Molly, die sich wenig Mühe gab, ihre außergewöhnlich miese Laune zu verbergen. Den Charme-Preis gewannen beide nicht. Wir quälten uns mit Small Talk der anspruchslosesten Sorte durch den zäh langen Abend, der sich wie ein endloser Parcours durch eine Ödnis aus Seichtigkeit wand. Es bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung, dass ich unsäglich erleichtert war, als ich endlich die Rechnung begleichen durfte. Was für ein Debakel!

Nach diesem missglückten Wiedersehen freute ich mich auf meine Rückkehr ins Interconti und auf meine spärlich ausstaffierte Angetraute. Wenigstens ersparte sie mir nach ihrer Rückkehr die Frage nach dem Verlauf meines Ausflugs. Vielleicht wollte sie vermeiden, dass ich bei ihr nachhakte. Offen gestanden, wollte ich gar nicht so genau wissen, was sie und ihre Freundinnen angestellt hatten. Grässlicher als das, was ich erlebt hatte, konnte es nicht gewesen sein.

Seit wir unsere vormals rein männliche Reisegruppe um die holde Weiblichkeit bereichert hatten, pflegten wir eine neue Art des Zeitvertreibs. Unsere Gattinnen liebten das High-Society-Viewing. Zu diesem Zweck gingen wir nachmittags zum Tennisspielen und anschließendem Afternoon-Tea in die Villa Vera und wurden selten enttäuscht, jedenfalls in Hinsicht Star-Dichte. Pool, Terrasse und Garten waren stets üppig bestückt mit aufgehenden Sternen, etablierten Künstlern und abgehalfterten Darstellern. Über die Jahre avancierten wir zu geschätzten „Kennt niemand, trotzdem gern gesehen“, sprich Stammguckern bei Teddy, mit dem ich häufig Tennis spielte. Obwohl er fast dreißig Jahre älter war als ich, verlor ich fast immer gegen „Mr. Acapulco“.

Es gab natürlich auch andere Beschäftigungen, denen wir im Dolce Vita-Eldorado nachgingen. Wir tauchten, segelten, sprangen mit dem Fallschirm aus luftiger Höhe und fuhren Wasserski. Das Füllhorn an Möglichkeiten war grenzenlos. Der einzige Zeitvertreib, dem wir uns beharrlich verweigerten, war träges Strandpökeln mit gelegentlichen Wendeeinheiten. Mir reichte es schon, die rotgebrutzelte, träge Spezies während der anstrengenden Sommermonate in Italien aushalten zu müssen.

Das Hotel, das wir bewohnten, war einer dieser gewaltigen in den Strand gerammten US-Klötze, dich sich uniform aneinanderreihten. Architektonisch eine Zumutung, gebot es jedoch über eine prächtige Pool-Anlage mit kleinen Einzelbecken, die über Kanäle miteinander verbunden waren. Riesige Palmen und saftige Urwaldflora umsäumten das fluide Gebilde. Das Highlight aber bildete die Grotte mit Wasserbar, die schon am frühen Nachmittag intensiv frequentiert wurde.

In dem Jahr, in dem ich mit Ava Gardner das denkwürdige Tête-à-Tête hatte und mit Frau und Anhang in die Villa Vera zum Schaulaufen tingelte, war auch Gunter Sachs vor Ort. Er hatte mit Gemahlin und Freunden ebenfalls im Interconti eingecheckt, was bewies, dass der ruppige Betonquader durchaus den Ansprüchen der verwöhnten „Hab-eh-schon-alles-gesehen-Klasse“ aus der alten Welt genügte.

Der Playboy – und Gunter Sachs war der Berühmteste dieser inzwischen nahezu ausgestorbenen Gattung, die eigentlich Artenschutz genießen sollte – flog mitsamt Fangemeinde in der gleichen Maschine wie wir Richtung Heimat. Seinem Ruf als Exzentriker machte er alle Ehre, als er sich vor dem Abflug eine schwarze Decke über den Kopf stülpte und einen Terroristen mimte. Erstaunlicherweise wurde diese eher geschmacklose Darbietung von der Flugbegleitung gänzlich ignoriert, was wohl daran lag, dass die Flughafenpolizei anderweitig beschäftigt war.

So wurden wir unfreiwillig Zeugen einer noch peinlicheren Darbietung. Eine sehr blonde deutsche Schauspielerin, die in den USA an der Seite eines sehr bekannten Komikers reüssiert hatte, wurde rüde aufgefordert, auszusteigen. Vor unser aller Augen musste sie draußen ihren Koffer öffnen, aus dem haufenweise Handtücher quollen, die sie aus ihrem Hotel entwendet hatte. Nachdem man ihr das Diebesgut abgenommen hatte, durfte sie wieder in die Maschine steigen. Mit gesenktem Kopf, das Gesicht unter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, huschte sie zu ihrem Platz in einer der vorderen Reihen. Wir taten so, als hätten wir von all dem nichts mitbekommen. Getuschelt wurde dennoch hinter vorgehaltener Hand.

Auszüge aus Kapitel 22

Nancy Reagan, Gianfranco Ferré und ein Duft-Debakel

… Die Kleinen wurden von den Großen im Idealfall attackiert, im schlechten Fall gefressen und in the worst case gingen sie unter wie Steine im Wasser. Das Geschäft mit Gels, Düften und Tuben glich einer Schlangengrube, in der nur die Abgefeimtesten überlebten. Unser Betrieb musste ständig auf Hochtouren laufen und unsere Werbeabteilung kämpfte an vorderster Front um die Brosamen, die die Haifische übrigließen. Täglich mussten wir neue Einfälle generieren und zügig umsetzen...

Parfums der Marken Lancôme, Estée Lauder, Lancaster, Yves St Laurent, Dior, Guerlain und Chanel wurden mit mehrstelligen Millionenbeträgen in den Markt geflutet und aufgrund der schieren Vielzahl der Zerstäuber herrschte ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb. Da uns große Budgets weder für Werbung noch für Marketing zur Verfügung standen, mussten wir uns etwas einfallen lassen, das am Ende ebenfalls Erfolge zeitigte, wenngleich in bescheidenerem Umfang.

Zu meinen vornehmsten Aufgaben in meiner Funktion als Leiter eines Unternehmens gehörte, dass ich dafür sorgte, die Produkte, für deren Vertrieb wir verantwortlich zeichneten, stets aufs Neue in allen verfügbaren Medien zu lancieren. Und weil es sich um Luxusartikel handelte, galt die Gesellschaftspresse als unser wichtigstes Transportmittel. Um deren Aufmerksamkeit zu erringen, mussten wir allerdings tief in der Trickkiste schürfen.

An einem trüben, kalten Frühlingsfreitag des Jahres 1985 bat ich zu diesem Zweck meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen spätnachmittags in unser kleines Besprechungszimmer. Nachdem ich eine erste Flasche Chianti entkorkt hatte, forderte ich sie auf, sich zu setzen. Das Prozedere war ihnen nicht neu. Wir hatten schon einige Feierabende in diesem Raum verbracht und in der Regel nicht umsonst. Dass meine Entourage ihre Freizeit so bereitwillig opferte, erfüllte mich mit Dankbarkeit und die zeigte ich gerne, indem ich sie ab und an zum Abendessen in ein nahegelegenes Restaurant einlud oder sie mit kleinen Aufmerksamkeiten überraschte.

Als ich die Gläser eingeschenkt hatte, nahm ich am Tischende Platz, atmete tief durch und erklärte dann: „Also, … wie ihr wisst, müssen wir für die neue Kreation von Ferré Begehrlichkeiten wecken. Anstatt auf nicht vorhandene Mittel setzen wir – wie gewohnt – auf Aktionen. Vielleicht hilft ein guter Roter, unsere Gehirnwindungen so zu ölen, dass sie originelle Einfälle im Minutentakt ausspucken.“

Auf diese Einleitung hin prosteten wir einander zu und brüteten Ideen aus, wie Hühner Eier. Ja, und was soll ich sagen, am Ende dieses langen Tages hatten wir die Flaschen leer und das Nest voll. Aus dem rotweinseligen Potpourri pickten wir anschließend die „Fabergés“ heraus – knackige Ideen, die nach Umsetzung schrien.

Die Verrückteste setzten wir stante pede in die Tat um. Dazu muss ich etwas ausholen: Vom 2. bis 4. Mai 1985 sollte das 11. Gipfeltreffen der Regierungschefs der Gruppe der Sieben im Palais Schaumburg in Bonn unter dem Vorsitz von Helmut Kohl stattfinden…

Unser Augenmerk galt Letztgenanntem, oder besser gesagt, seiner zarten Gattin Nancy, die ihn auf dieser Reise begleitete. Die First Lady war eine Mode-Ikone mit einem außergewöhnlichen Gespür für zeitlose Eleganz, gepaart mit raffinierter Opulenz. Eine bessere Markenbotschafterin konnte man sich für ein neues Profumo di lusso nicht wünschen.

Ich schickte ein Telex an den Hersteller des seit Monaten gehypten Duftes Gianfranco Ferré, den der berühmte Designer aus Mailand unter seinem Namen kreiert hatte. In meinem Anschreiben an Diana de Silva Cosmetique in Cormano bat ich um Übersendung einer Magnum-Version dieses Parfums für sage und schreibe tausend Mark. Der riesige Flakon sollte mit einer goldfarbenen Plakette versehen werden, auf die der Name „Nancy Reagan“ eingraviert sein sollte. Die Firma lieferte das Gewünschte innerhalb kürzester Zeit.

Am 1. Mai 1985 flog ich mit meinem kostbaren Geschenk für Mrs. Reagan nach Köln-Bonn. Mir war bewusst, dass nicht ich derjenige sein konnte, der ihr die Gabe überreichte. Es musste eine Persönlichkeit sein, die ihr nahe genug kam. Keinesfalls durfte ich riskieren, dass die teure Flasche irgendwo verschütt ging. Bevor ich ins Flugzeug stieg, rief ich deshalb den Protokoll-Assistenten von Bettino Craxi in Bonn an und informierte ihn, dass ich seinem obersten Dienstherrn am frühen Nachmittag ein Geschenk für die Ehefrau des US-Präsidenten vorbeibringen würde.

In Bonn angekommen, nahm ich ein Taxi direkt zum Palais Schaumburg. Da ich meinen Besuch von München aus avisiert hatte, wurde ich ohne großes Federlesens zur Suite von Bettino Craxi geleitet, wo mich der Sekretär des Ministerpräsidenten empfing. Ihm hielt ich das in Zellophan gehüllte Paket – größer als eine Schuhschachtel – hin mit den Worten: „Mit freundlichen Grüßen Ihrer Botschaft in Bonn, die darum bittet, dieses Präsent, eine neue Duftkreation aus dem noblen Hause Ferré, der First Lady der Vereinigten Staaten, Mrs. Nancy Reagan zu überreichen.“ Auf dem Präsent prangte unter einer großen roten Schleife halb verborgen ein goldenes Schildchen mit der Aufschrift With compliments to Mrs. Nancy Reagan – Gianfranco Ferré.

Während ich mein Sprüchlein auf Italienisch herunterbetete, trat Bettino Craxi mit nacktem Oberkörper aus dem Badezimmer. Er hatte ein Handtuch um den Hals geschlungen. Einen Moment lang stutzte er, dann aber stahl sich ein freundliches Lächeln in sein markiges Gesicht. Wenn er lächelte, sah er ziemlich passabel aus. Mit galanter Noblesse nahm er mir das Mitbringsel ab: „Was für eine nette Aufmerksamkeit des Botschafters. Richten Sie ihm meinen aufrichtigsten Dank aus und auch Ihnen gebührt ein herzliches Dankeschön für den Transfer. Wie kommt es, dass Sie so gut Italienisch sprechen?“

Ich freute mich über das Kompliment und erzählte ihm von meinen Hotelerfahrungen in Milano Marittima. Wir plauderten ein paar Minuten miteinander. Erstaunlich fand ich, dass es ihn nicht interessierte, wie ich zu dem Boten-Job gekommen war. Er verabschiedete mich mit dem Versprechen: „Seien Sie versichert, dass ich dieses prachtvolle Meisterwerk italienischer Handwerkskunst bei nächster Gelegenheit persönlich übergeben werde.“ Die Eloge auf die italienische Handwerkskunst erschien mir in diesem Zusammenhang etwas übertrieben, aber da sie mein Anliegen aufwertete, sollte sie mir recht sein. Mit einem fürstlichen Trinkgeld, das mir sein Sekretär gönnerhaft in die Hand gedrückt hatte, verließ ich die Suite.

Der Coup erwies sich als äußerst erfolgreich. Die eingeladenen Journalisten berichteten ausführlich über das Geschenk mit der persönlichen Widmung, das die Italiener (haha) der Amerikanerin gemacht hatten. In München kümmerte sich unsere Frau Schubert darum, dass die schreibende Zunft, die nicht zum Wirtschaftsgipfel geladen war, von der Aktion erfuhr. Natürlich vergaß sie nicht, in ihre Bulletins häufig den Namen Gianfranco Ferré einzuflechten, denn darum ging es ja schließlich. Der Erfolg war überwältigend und brachte mir ein persönliches Dankeschön des Maestros Gianfranco Ferré ein. Er lachte lauthals am Telefon über meine Chuzpe und meinte: „Sie sind mir ja ein ganz Ausgefuchster. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Da können sich meine Landsleute noch ein Scheibchen abschneiden. Gratuliere!“

Im Winter 1986 bekamen wir ein neues Duftensemble auf den Tisch, das wir vertreiben sollten. Es war müßig darüber nachzudenken, dass der Markt der fine Fragrances vollkommen übersättigt war. Sprich, die Macher mussten werbetechnische Meisterwürfe landen, um ihre Tröpfchen aus dem Moschus-Dschungel der Riechkredenzen herauszuheben. Nomen est omen, war ihnen das gelungen. Hascish Royal klang verrucht, verboten und zugleich mystisch und exotisch. Diesem großartigen Versprechen konnte der Inhalt eher weniger Folge leisten. Erst stieg er einem süßlich in die Nase und anschließend folgte ein Abgang, der an Küchenkräuter denken ließ. Mit dem Aroma des verbotenen Rauschmittels hatte diese Kreation rein gar nichts zu tun. Aber wer kannte das schon?

Um Hascish Royal unter die Leute zu bringen, brauchte es wieder einmal ein Fabergé-Ei. Eines befand sich sprichwörtlich vor unserer Nase auf dem Präsentierteller: Seit Wochen lag der aus Ostanatolien stammende Ministerpräsident der Türkei, Turgut Özal, mit unserer Bundesrepublik über Kreuz. Er zeigte sich zwar wirtschaftspolitischen Interessen gegenüber durchaus offen, aber aufgrund seiner Herkunft galt er als glühender Verfechter konservativen Lebensstils. Verständlich, dass ihm das, was in Deutschland ablief, gar nicht gefiel. Zu viele Freiheiten, zu wenig staatliche Kontrolle. Vorsorglich ließ er an den Grenzen Touristen aus dem ausgemachten Sündenpfuhl besonders gründlich kontrollieren. Wurden sie auch nur mit geringen Mengen Rauschgift erwischt, setzte es drakonische Strafen im ehemaligen Osmanischen Reich.

Aufgrund dieser Sachlage informierte ich sämtliche mir zugängliche Presse- und Nachrichtendienste via Telex darüber, bei Einreise in die Türkei kein Hascish Royal im Gepäck zu haben, denn es bestünde die Gefahr, festgenommen zu werden. Eigentlich war dies eine unglaublich banale Warnung, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Zahlreiche Medien berichteten anschließend über das Risiko dieses harmlosen Duftes. Die beste PR schenkte uns der ORF-Moderator Dieter Moor, der im Kulturmagazin „Kunst-Stücke“ die Gefährlichkeit von Hascish Royal für Türkei-Reisende ausführlich abhandelte. Panikmache und Verbote weckten schon immer das breite Interesse und folglich die Nachfrage und so entwickelte sich Hascish Royal mit geringem Aufwand zum begehrten „Muss-ich-Haben“-Schlager. Es versteht sich von selbst, dass unsere 540 Einkäufer sich überschwänglich für die ungewöhnliche Verkaufshilfe bedankten.

Ermutigt durch diesen Erfolg reifte an einem dunklen Winterabend in unserem Büro mit dem „Sterntaler-Konzept“ ein weiteres Ei kreativer Schaffenskraft: Über den Fußgängerzonen verschiedener Städte sollten Drachenflieger Tausende Muster der royalen Mixtur abwerfen...

Auszüge aus Kapitel 1

Operation Buttercremetorte

Mit der „Operation Buttercremetorte“ startete ich am ersten Oktober des Jahres 1951, einem herbstlich anmutenden Montag. Diesen Termin verdankte ich meiner umsichtigen Erzeugerin. Sie hatte mit mütterlicher Entschlossenheit dafür gesorgt, dass ich nach Beendigung der Hauptschule in Lambach ungeachtet beginnenden Stimmbruchsund fehlender Bildung die Aufnahmeprüfung für die Salzburger Hotelfachschule in Bad Gastein ablegen durfte.

Diese Institution war zu dieser Zeit eine von wenigen Lehranstalten für Hotellerie in Europa. Sie residierte in einem angestaubten Luxushotel aus dem Neunzehnten Jahrhundert, dessen vergangene Opulenz sich nur vage erahnen ließ.

Mutter und Schwester begleiteten mich zum Bahnhof von Bachmanning, um mich in eine längere Abwesenheit zu verabschieden. Sie hatten nicht nur ein grobkariertes Pappendeckel-Behältnis für mich gepackt, sondern auch einen Korb mit Unmengen an Proviant. Wie die meisten Kinder des Krieges, war ich ein dürres Würstchen mit nie endendem Kohldampf und man konnte ja schließlich nicht wissen, wie eine solche Reise sich gestaltete und wie lange sie am Ende dauerte.

Meine Mutter hatte mich recht ansehnlich ausstaffiert. Als gelernte Schneiderin nutzte sie die Möglichkeiten, aus dem Wenigen, was uns zur Verfügung stand, etwas Repräsentatives zu zaubern. Ich fühlte mich wie ein kleiner Herr. Zur Feier des Tages trug auch meine Schwester Susi ein feines, helles Kleid mit kecken Rüschen, in dem sie aussah wie eine Prinzessin. Ihre dicken, blonden Zöpfe waren von dottergelben Samtschleifen gebändigt. Sogar meine Mutter, die sonst dunkler Farblosigkeit huldigte, hatte sich in Schale geworfen. Plötzlich wirkte sie viel jünger. Sogar ihr verhärmtes, kriegsgezeichnetes Gesicht nahm einen sanften, entspannten Ausdruck an und ich entdeckte, wie schön meine Mutter eigentlich war.

In diesem Moment, als wir drei am Bahnhof auf die Einfahrt der Bahn warteten, erfasste mich ein unbändiges Glücksgefühl, das tief aus meinem Bauch kam und mir Tränen der Dankbarkeit in die Augen trieb. Ich versuchte, sie zurückzudrängen, denn ich schämte mich ein wenig meiner Weichlichkeit. Aber sie liefen. Ich musste schniefen und meine Frau Mama um ein Taschentuch bitten. Sie nahm mich liebevoll in den Arm und drückte mich entgegen ihrer Gewohnheit, es mit den Zärtlichkeiten nicht zu übertreiben, so intensiv, dass ich kaum Luft bekam. Susi heulte wie ein Sturzbach, als sie mich zum Abschied tollpatschig umarmte. Das schöne Kleid war voller Flecken, als sie sich endlich von mir löste, weil zwischenzeitlich der Zug eingelaufen war. Hastig kletterte ich mit meinen Habseligkeiten in das Abteil, um nicht noch einmal von einer Woge salzigen Abschiedsschmerzes überwältigt zu werden.

Ich fand einen Platz auf einer abgesessenen Holzbank am Fenster, das ich öffnete, um noch einmal meine Honneurs Richtung Familie zu machen. Endlich bewegte sich das Vehikel und bereitete dem hemmungslosen Heulen und Winken ein Ende.

Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich schon wieder war. Ich ließ mich auf dem hölzernen Foltergerät mit Aussicht nieder und öffnete den Korb mit dem Proviant. Meine Mutter hatte es wirklich gut mit mir gemeint. Als erstes machte ich mich über die Schmalzbrote her, die ich mit großem Appetit buchstäblich in mich hineinschaufelte. Mir gegenüber hatte sich eine mittelalte Matrone in einem zu engen geblümten Wollkostüm niedergelassen, das ihr Hüftgold auf wenig charmante Weise umschloss. Sie beobachtete mich missbilligend.

Ich dachte daran, ihr eine Scheibe anzubieten, ließ aber von diesem Vorhaben ab, weil ich fürchtete, Nähte ihres floralen Ensembles könnten eventuell platzen, wenn sie sich weiteres Essen zuführte. Diesen Anblick wollte ich mir unter allen Umständen ersparen. Als habe sie meine Gedanken erraten, fischte sie plötzlich eine Dose mit Keksen aus den Tiefen ihrer riesigen Stofftasche. Sie bediente sich eifrig und bot – zu meinem Erstaunen – auch mir etwas von der Backware an. Es versteht sich, dass ich beherzt zulangte und ihr im Gegenzug etwas aus meinem reichen Fundus anbot. Während sie sich ständig etwas zwischen ihre zartgetönten Lippen schob, fragte sie mich über meine Herkunft, meine Pläne und meine Interessen aus. Sie redete fast ohne Punkt und Komma. Ich kam kaum dazu, all ihr Fragen zu beantworten. Dafür lag ihr Leben vor mir wie ein ausgebreitetes Laken. Die Zeit verging wie im Fluge und ehe ich mich versah, hielt die Bahn in Salzburg, meiner ersten Station auf dem Weg in jugendliche Freiheit. Ich verabschiedete mich von meiner großzügigen Sitznachbarin, die zum Glück noch vollständig angezogen war, und rumpelte auf den Bahnsteig.

Die Stunden, die ich vor meinem Umstieg in den Zug nach Bad Gastein verbringen musste, nutzte ich für einen ausgedehnten Bummel durch die Geburtsstadt Mozarts. Meine Klassenfreundin Inge, eine langbeinige Gazelle mit Schwanenhals, der ich in meinen letzten Schuljahren den Hof gemacht hatte, hatte mir eine Straße in Salzburg genannt, in der Minderjährige sich besser nicht sehen ließen. Nomen est omen hieß dieses verrufene Terrain „Herrengasse“. Es war natürlich klar, dass ich als erstes diese enge, leicht gewundene Gasse am Fuße des Festungsberges in der Altstadt aufsuchen würde, um herauszufinden, was es mit der Warnung meiner Inge auf sich hatte. Früher Heimstatt der „Geistlichen Herren“ des Doms – daher der Name „Herrengasse“ –, befand sich auf dem Pfad nun ein Bordell. Mir sagte der Begriff damals wenig, da es in der Gegend meiner Kindheit etwas Derartiges nicht gab. Jedenfalls nichts, was als Freudenhaus offiziell firmiert hätte.

Da ich sehr neugierig war und unbedingt wissen wollte, wie es in einem solchen Etablissement zuging, überwand ich Angst und Scham und klopfte mutig, wenngleich ein wenig verhalten, an die massive, dunkle Pforte aus Eichenholz. Allein schon dieses hölzerne Ungetüm war angsteinflößend. Das lag aber auch daran, dass darauf in großen weißen Lettern „NO LIMIT“ prangte. Mein Englisch reichte damals nicht aus, um diese geheimnisvolle Floskel zu deuten.

Endlich öffnete sich das Tor einen Spalt weit und ich stand einer semmelblonden Frau im Alter von vierzig bis fünfzig gegenüber. Sie war klein und kompakt und trug um die Schultern ein buntgeschecktes Seidentuch, das ihren großzügigen Ausschnitt leidlich bedeckte. Ihr teigiges Gesicht wirkte, als sei es mit einem Eimer voll Farbe zugespachtelt. Da sie ganz offensichtlich auf Kundschaft wartete, die ihre Reize zu schätzen verstand, schaute sie mich erschrocken an. Ich, obwohl in spätpubertärer Phase, fand keinen Gefallen an dieser welken Auslage, von der ich mir gewünscht hätte, dass das Seidentuch sie bedeckte. In diesem peinlichen Moment fragte ich mich, wer Sehnsucht nach einer solchen Frau haben konnte und dafür auch noch bezahlte, dass sie mehr als das Foulard en soie ablegte. Denn inzwischen war sogar mir klar geworden, dass derlei Dienstleistungen nicht umsonst zu haben waren.

Während ich mein Gegenüber fassungslos anstarrte, hörte ich im Hintergrund fröhliches Geschnatter deutlich jüngerer Frauen. Bevor ich derer allerdings ansichtig wurde, fauchte die Vertreterin des horizontalen Gewerbes mit unnachahmlichem österreichischem Zungenschlag: „Bürscherl, was hast‘ hier zu suchen? Zupf di, aber pronto, bevor ich dir deine roten Ohrwaschl bis zum Hos‘nboden obi ziag!“ Ich machte mich vom Acker, und zwar – wie geboten – pronto! Denn ich hatte erst mal genug vom anderen Geschlecht.

Nach diesem Schockerlebnis nutzte ich die wenige Zeit, die mir blieb, um das Grand Café Winkler auf dem Mönchsberg zu besuchen, welches der Hotelier Hermann Winkler gepachtet hatte. Winkler stammte aus Reichenberg im Sudetengau und war mit meinem hoch geschätzten Onkel Franz eng befreundet.

Das Café war ein begehrtes Ausflugsziel. Die Beliebtheit verdankte es auch dem Aufzug, der die Altstadt mit dem Mönchsberg verband. Im Winkler schlürften Gäste aus aller Herren Länder große oder kleine Braune, Einspänner, Melanges oder Kapuziner und natürlich gerne das eine oder andere Achterl. Anschließend wurde getanzt. Ich war hingerissen! Das war sie, die große Welt, von der ich seit meiner Kindheit geträumt hatte, und ich mittendrin! Aber um wirklich mittendrin zu sein, musste ich etwas verzehren. Deshalb bestellte ich mir eine heiße Schokolade mit Schlag, die mein Budget zwar belastete, aber zum Glück nicht sprengte.
Mein Horizont war bis dahin recht überschaubar gewesen. Bis zum achten Lebensjahr hatte ich regelmäßig meine Verwandten in Bad Bodenbach und Reichenbach besucht. Höhepunkte bildeten die Touren mit meinen Eltern nach Pommern an der Ostsee. Dann kam der Krieg in meine Heimat Schlesien. Es folgten kräftezehrende Jahre mit mehrmaligen Fluchten Richtung Westen, die in Bachmanning in Oberösterreich ihr vorläufiges Ende fanden. Ich konnte nur begrenzt nachfühlen, was meine Mutter während dieser düsteren Zeiten durchgemacht hatte.

Mit Salzburg begann sich der Tunnel zu lichten, denn diese Modelleisenbahn-Vorlage begrüßte zu dieser Zeit bereits unzählige Touristen aus England und Übersee. Verständlich, dass die Salzburger durch den internationalen Besucherverkehr wesentlich toleranter und lockerer waren als die Hinterwäldler in Oberösterreich.

Ich war gespannt auf Bad Gastein. Würde dieser Kurort ebenso weltoffen sein wie das Nockerl-Juwel an der Salzach? Bad Gastein galt seit den Zeiten von Kaiser Franz Joseph I. bis in die Vierzigerjahre als eines der nobelsten Heilbäder Europas. Kuren waren gesellschaftliche Ereignisse. Im Grand Hotel de l’Europe traf sich die internationale Prominenz zum Thermalbaden in Belle Époque Ambiente. Der neue Geldadel stieg im Hotel Weismayr im Zentrum ab.

Das Weismayr beherbergte die Hotelfachschule, zu der ich zu Fuß trottete, nachdem ich endlich in Bad Gastein eingetroffen war. Während des langen Marsches durch winkelige Straßen wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich kein illustrer Gast war, der in ein altes Luxushotel eincheckte, sondern lediglich ein ärmlicher Teenager, der die betuchte Klientel zu bedienen hatte.

Ein wenig durfte ich jedoch hineinschnuppern, denn mir wurde bei Ankunft ein Hotelzimmer in der zweiten Etage zugewiesen, um das mich auch zahlende Gäste beneidet hätten. Hätten sie allerdings gesehen, wie Staub, Motten und Schweiß sich in die vergilbten Tapeten gefressen hatten, wären sie in Mitleid ausgebrochen. Die Scheiben der großen Sprossenfenster waren so blind, dass sie das Tageslicht nur spärlich in den muffigen Raum ließen, den ich mir mit einem jungen Mann aus Wien teilte.

So hatte ich mir meine erste eigene Bleibe nicht vorgestellt. Mit einem etwas flauen Gefühl packte ich meinen karierten Pappkoffer aus und verstaute meine wenigen Habseligkeiten in einem altersschwachen Monstrum, das einen säuerlichen Geruch ausströmte. Das Bettzeug roch ebenfalls nach Geschichte. Vielleicht wurde es schon während des Dreißigjährigen Krieges benutzt. Mein Mitbewohner, ein Endzwanziger und Wiener adliger Herkunft, war ebenso wenig von seiner neuen Umgebung angetan, wie ich. Sein Missfallen unterstrich er, indem er den rechten Zeigefinger an seine rümpfende Nase hielt und sich anschließend schüttelte wie ein Hund, der sich in einer Pfütze gewälzt hatte. Diese kleine Szene löste bei mir ein herzhaftes Lachen aus, und er ließ sich davon anstecken. Als wir uns beruhigt hatten, holte ich die letzten zwei Schmalzbrote aus meinem Korb und teilte sie brüderlich mit ihm.

Seine Dankbarkeit für diese Geste zeigte er mir in der Folge etwas zu intensiv. Er klebte an mir wie Kaugummi an einem Turnschuh. Manchmal fand ich auf meinem Kopfkissen hübsch verpackte Süßigkeiten, die er dort liebevoll drapiert hatte. Diese Art männlicher Zuneigung war mir bis dahin fremd gewesen. Schließlich sprach ich ihn darauf an und bat ihn höflich, sich auf andere Schüler zu kaprizieren. Zum Glück akzeptierte er meine Bitte und hielt sich fortan fern von mir.

Im ersten und zweiten Stock waren die männlichen Schüler untergebracht. Die Etagen darüber waren der holden Weiblichkeit vorbehalten. Aus praktischen Erwägungen war zwischen zweiter und dritter Etage eine zusätzliche Wand eingezogen worden, um allzu heftiges Aufeinandertreffen beider Geschlechter nächtens zu unterbinden.

Aber wie das nun einmal so ist mit Verboten, üben sie den unwiderstehlichen Reiz aus, gebrochen zu werden. Bei uns war es nicht anders. Jeden Abend gegen 21 Uhr, wenn der Unterricht endete und Küche und Restaurant geschlossen waren, warf die Schülerschaft alle Regeln über Bord und vergnügte sich etagenübergreifend.
Bevor ich mein neues Heim im Weismayr endgültig beziehen konnte, musste ich sowohl eine mündliche als auch eine schriftliche Aufnahmeprüfung absolvieren. Diese Tortur dauerte zwei Tage. Das Gespräch mit dem letzten Kommissar der Prüfungskammer fiel befremdlich aus. Er behauptete allen Ernstes, meiner Handschrift eine unerhörte Arroganz entnommen zu haben. Aus diesem Grund empfahl er mir, intensiv über diesen graphologischen Makel nachzudenken, um später keine wie auch immer gearteten Enttäuschungen zu erleben. Aber worin liegt die Arroganz einer Handschrift? In den Oberlängen, den Rundungen, den Unterlängen, der Schreibrichtung oder gar in der Lesbarkeit? Ich dachte intensiv nach, allerdings nicht über mein weiteres Leben mit einer solchen Klaue, sondern über den unsäglichen Kommentar eines angejahrten Sesselklebers. Noch heute erinnere ich mich mit Schaudern an das ammoniakartige Odeur seiner abgetragenen Lodenjacke. Obwohl meine Schreibweise diese Deutung nahelegte, war ich alles andere als hochnäsig. Im Gegenteil, damals war ich bescheiden bis zur Unterwürfigkeit. Zu guter Letzt haben sowohl meine angehimmelte Hannelore als auch ich die Prüfung bestanden.

Theorie und praktischer Unterricht fanden erfreulicherweise in gemischtgeschlechtlichen Formationen statt. Wir wurden in fünf Klassen eingeteilt – drei Klassen des ersten Jahrgangs und zwei Klassen des zweiten Jahrgangs, basierend auf der Annahme, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler des ersten Jahrgangs sich für ein weiteres Jahr qualifizieren würden. Jede Klasse organisierte im Wechsel von sieben Tagen die Betreuung, Verpflegung und Reinigung, da es außer dem Lehrkörper kein weiteres Personal gab. Insgesamt waren wir knapp 150 Schüler und Schülerinnen und im Gegensatz zu mir waren die meisten von ihnen vielversprechende Abkömmlinge arrivierter Hoteliers-Clans aus aller Welt. Ihr Alter variierte zwischen achtzehn und fünfundvierzig, was bedeutete, dass die Studierenden manchmal älter waren als die Ausbilder. Der Jüngste mit fünfzehn Lenzen war ich, gefolgt von Hannelore mit zarten sechzehn. Derjenige, dem die Ehre zuteilwurde, den Altersdurchschnitt der Studierenden erheblich anzuheben, war ein Brasilianer namens Marius, der ursprünglich aus Ungarn stammte. Seine Eltern hatten nach dem Krieg ein Hotel in Sao Paulo erworben und ihren Sohn nach Bad Gastein geschickt, um ihm den Feinschliff für die Leitung einer gehobenen Herberge zu geben. Er sollte übrigens mein bester Freund an der Schule werden.

Beim ersten Treffen aller Teilnehmer bekam ich Gelegenheit, einige der italienischen Schüler kennenzulernen, die mit Verve daran gingen, ihr Revier abzustecken und ihre Duftmarken zu setzen. Bevor wir überhaupt realisierten, was vor sich ging, flirteten sie bereits beim Kaffeetrinken außerhalb des Hotels mit den hübschesten Mädchen. Ihre Sprache erwies sich dabei als Flirt-Booster, denn Italienisch klingt wie Musik und da braucht es nicht allzu viele Worte, um direkt in die Zielgerade einzulaufen.

Verständlich, dass ich nicht zurückstehen wollte. Meine Bemühungen konzentrierte ich auf das anspruchsvollste Objekt der Begierde, eine kühle, ikonische Blondine namens Ursula, kurz Ursel. Ihre Eltern betrieben das legendäre Café Schmidt in Schwabing. Welche Pläne sie für die Zeit nach der Hotelfachschule hatte, entzog sich meiner Kenntnis. Ursel, die ihren zwanzigsten Geburtstag schon gefeiert hatte, wurde neben mir von zwei kohleäugigen Venezianern heftig umworben.

Diese beiden – Söhne von Piero Beggiato, dem Eigner des Hotels Concordia, jetzt Metropol, und Renato Graziani, dem Herrn über das Continental – hatten die Dreißig längst überschritten und waren somit in meinen Augen steinalt. Aber sie konnten es sich leisten, die goldgelockte Schönheit an freien Wochenenden in die teuren Cafés von Bad Gastein auszuführen. Jedes Mal, wenn ich Ursel mit einem dieser gelackten Oldies die Straße entlanglaufen sah, wurde ich grün vor Neid. Sie wirkte unendlich erhaben, entfernt wie der Mond, wenn sie anmutig auf ihren hohen Absätzen über den Asphalt stöckelte und dabei liebevoll von einem ihrer italienischen Verehrer gestützt wurde.

Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich Ursels Aufmerksamkeit erregen konnte. Aber vorerst ließ mein Budget weitergehende Überlegungen in diese Richtung nicht zu. Logis und Verpflegung waren zwar dank eines Stipendiums, das ich als Flüchtling vom österreichischen Staat erhalten hatte, in den Seminarkosten enthalten. Aber das, was meine Mutter mir mitgegeben hatte, reichte bei weitem nicht, teure Kaffeehaus-Besuche zu finanzieren, schon gar nicht für ein kapriziöses Wesen wie Ursel.

Das sollte sich ändern, als ich mich mit Marius anfreundete, der mit den älteren Schülern nicht so recht warm wurde. Es schien fast so, als hätte er eine grundlose Angst, ihnen intellektuell unterlegen zu sein. So war es eigentlich nicht überraschend, dass wir einander fanden. Immerhin waren wir beide Außenseiter – Marius aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und ich, weil ich als Einziger keinen gastronomischen Hintergrund hatte und noch dazu arm wie eine Kirchenmaus war.

Im Laufe der zwei Jahre, die ich in Bad Gastein zubrachte, wurden wir dicke Kumpels und erfolgreiche Geschäftspartner. Das mag jetzt etwas hochgestochen klingen, aber Marius hatte den Zigarettenvertrieb als einträgliche Erwerbsquelle etabliert und beteiligte mich großzügig am Verkauf des begehrten Schmuggelguts. Auf diese Weise konnte ich meine flachen Finanzen ansehnlich aufpolstern. Mein brasilianischer Spezi lieferte und ich vertickte die Stängel mit einem Abschlag von dreißig Prozent auf den offiziellen Preis. Es handelte sich um Ware amerikanischer Provenienz, die er aus geheimen Quellen in Jugoslawien zu günstigen Bedingungen bezog. Ich hatte meine Zweifel, dass es sich um Originalprodukte handelte. Ich war so dumm nicht zu wissen, dass der Handel mit geschmuggelten Zigaretten strafbar war. Manchmal ist es besser, wenn man nicht alles weiß. Der Rauswurf aus der Schule wäre die geringste Strafe für dieses Vergehen gewesen.

Marius mag vielleicht kein Einstein gewesen sein, aber er besaß eine gehörige Portion Bauernschläue. Zudem war er eine stattliche Erscheinung mit formvollendeten Manieren und großer Überzeugungskraft. Diese Eigenschaften kamen uns beiden zugute, vor allem dann, wenn wir als seltsames Gespann um die Häuser zogen, das eher wie Vater und Sohn daherkam. Im Laufe der Zeit erwarben wir uns ein gewisses Ansehen. Es äußerte sich darin, dass wir in den Etablissements, in denen wir verkehrten, gute Plätze bekamen und die Drinks in der Regel aufs Haus gingen. Marius – stets in edles Tuch mit feschem Einstecktüchlein gewandet – verstand sich natürlich auch gut auf Frauen. Nicht wenige einsame Kriegswitwen und vernachlässigte Gattinnen erlagen seinem natürlichen k.-und-k.-Charme, der schon damals ein wenig aus der Zeit gefallen schien. Zuweilen fragte ich mich, was er eigentlich noch erlernen sollte. Für mich war er der beste Lehrmeister, den ich mir wünschen konnte.

Auszüge aus Kapitel 3

1953-1954, Wilde Nächte in Paris

Eines Tages wurde ich zum Abendessen von Nathalies Mutter Madeleine ins Quartier du Montparnasse eingeladen. Als ich der Dame des Hauses beim Eintreten galant einen Blumenstrauß überreichte, eröffnete sie mir, dass ihre Tochter aushäusig sei. Auch Herr Kaplan glänzte durch Abwesenheit.

Merkwürdigerweise hatte ich nichts dagegen, den Abend allein mit Frau Kaplan zu verbringen, die in ihrem moosgrünen Samtkleid mit dem fast nabeltiefen Ausschnitt hinreißend aussah. Versonnen starrte ich ihr hinterher, wenn sie mit verführerischem Beckenschwung auf ihren hohen Absätzen in die Küche entschwebte, um Nachschub zu holen. Und sie holte oft Nachschub, denn sie wusste sehr genau um die Wirkung ihrer wogenden, schmalen Hüften. Bei der Rückkehr tätschelte sie mir stets wie unabsichtlich die Wange. Die gestreichelte Seite fühlte sich jedes Mal an wie ein Krapfen, der in heißem Öl gewendet wurde.

Wir löffelten Foie Gras aus papierdünnen Porzellanschälchen, verlustierten uns an Coq au Vin und tranken kristallkübelweise Champagner. Derweil lauschte ich meiner attraktiven Gastgeberin, die mir mit gelöster Zunge eine kleine Lektion in französischer Weltliteratur erteilte und sich längst nicht mehr bemühte, den heruntergerutschten Träger ihrer dunkelgrünen Versuchung in seine ursprüngliche Position zu ziehen. Insgeheim ging ich davon aus, dass sie auf dem Weg zur Küche ein paar Knöpfe geöffnet hatte, damit ihr dieses raffinierte Malheur passierte. Während ich wie gebannt auf die spitzenbesetzte Seide blickte, die unter dem Kleid hervorlugte, erfuhr ich zum ersten Mal von Albert Camus, Jean-Paul Sartre, seiner Geliebten Simone de Beauvoir, Jean Cocteau, Édith Thomas und Boris Vian. Die meisten dieser Persönlichkeiten kannte Madeleine persönlich. Mir fehlten wieder einmal die Worte, aber was hätte ich auch zu diesen Exkursionen in die Hochkultur à la française beitragen können? Sie erzählte mir von den Schrecken des Krieges und der entfesselten Euphorie, die die Seine-Metropole nach der Befreiung erfasst hatte.

Mit zunehmendem Trinkgenuss löste sich die physische Zurückhaltung und so landeten wir – wenig überraschend – nach dem in jeder Hinsicht anregenden Dinner in einer Nebenkammer der großen Wohnung. In dieser befand sich eine schmale, brettharte Liegestatt, die der Romantik nicht zuträglich und der Situation nicht angemessen war. Aber das störte nicht, als wir übereinander herfielen wie Verdurstende über eine Wasserstelle in der Wüste. Der Herr des Hauses schien seine anbetungswürdige Frau ziemlich vernachlässigt zu haben.

Zwangsläufig endete meine Beziehung zu Nathalie nach diesem lustgeschwängerten Dessert in der elterlichen Besenstube. Meine reife Geliebte sorgte dafür, dass Nathalie und ich uns fortan so gut wie nicht mehr über den Weg liefen. Angesichts meines neuen Beziehungsstatus kam mir dieser Modus Operandi sehr gelegen. Ein wunderbarer Nebeneffekt meiner verruchten Liaison mit Madeleine war, dass ich nun mit diesem Teufelsweib Nacht für Nacht durch Paris schwirrte und völlig neue Seiten dieser Stadt kennenlernte. Dieses andere Paris war eine verwegene Mischung aus privaten und öffentlichen Clubs, verschwiegenen Lesben- Trans- und Homolokalen, düsteren Bars und produktiven Sessions mit Künstlern und Existenzialisten, die Madeleine größtenteils seit ihrer Jugend kannte. Am liebsten frequentieren wir den Jazzclub Le Tabou in der Rue Dauphine. Der Rest ihrer schillernden Bekanntschaften entstammte Einladungen, die sie mit ihrem Gatten Monsieur Kaplan, einem renommierten Chirurgen, wahrgenommen hatte. Er lebte zwischenzeitlich getrennt von seiner Frau, näher bei seiner Klinik, um in Notfällen schneller vor Ort sein zu können.

Meines Erachtens war dies ein Vorwand, denn auch er hatte offenbar Bedürfnisse, die seine Angetraute nicht befriedigen konnte oder wollte. Ich sprang gerne für ihn ein und betrachtete das Ganze als profitables Arrangement für alle Beteiligten.

Meine verehrte Mutter würde sich noch heute im Grabe umdrehen, hätte sie gewusst, wie ihr halbwüchsiges Söhnchen seine Nächte im verruchten Paris durchbrachte.

Während meiner „maladen“ Abwesenheit hatte Madeleine unzählige Pläne geschmiedet, wohl wissend, dass ich nur noch wenige Wochen in Paris weilen würde. Meine Arbeitsbewilligung endete am 28. Februar und das bedeutete, dass ich auch meine ungeliebte Behausung aufgeben musste.

Ja, was soll man sagen? Das Erste, womit Madeleine mich überraschte, als wir uns wiedersahen, war eine entzückende kleine Wohnung in einer schmalen Seitenstraße des Boulevards des Maréchaux in der Rue Albert Sorel. Dieses Appartement nannte sie bereits seit ihrer Studienzeit ihr Eigen. Sie bot mir an, dort einzuziehen, sobald ich meine Zelte in Stalingrad abgebrochen hatte. Meinem sehnlichen Wunsch, das europäische Epizentrum der Lebensfreude nicht allzu bald verlassen zu müssen, kam dieser Vorschlag äußert gelegen. Natürlich war ich mir bewusst, dass Gegenleistungen körperlicher Art von mir erwartet wurden, denen ich selbstredend gerne nachkam. Der besondere Reiz meiner lustbetonten Aktivitäten bestand darin, dass uns ein Altersunterschied von achtundzwanzig Jahren trennte. Damit war sie fast dreimal so alt wie ich. Warum ich das so aufregend fand, ist leicht zu erklären. Meine Lehrmeisterin verfügte über ein opulentes Arsenal an Erfahrungen und das teilte sie auf das Phantasievollste mit mir. Ich war ein gelehriger Schüler, bereit für alles – und „alles“ meinte wirklich Alles! Diese Vorliebe für reife Früchte teilte ich mit zahllosen Geschlechtsgenossen, die in ihrer Jugend danach trachteten, die besten Freundinnen ihrer Mütter zu verführen oder davon träumten, wenn ihnen dieser Genuss verwehrt blieb.

Der 26. Februar 1953 markierte meinen letzten Arbeitstag. In Anbetracht dessen lud ich meine geschätzte Kollegin Gisèle zu einem Dankeschön-Dinner ein. Für den Anlass wählte ich ein kleines bezahlbares, sehr gemütliches Restaurant, das mir perfekt geeignet schien, meine Wertschätzung für ihre Hilfe in den letzten drei Monaten angemessen auszudrücken. Ohne Gisèles Unterstützung hätte ich es nicht geschafft, all die Behördengänge und Erledigungen zu bewältigen. Sie wusste um meine erbärmlichen Sprachkenntnisse und hatte diskret alle Hürden aus dem Weg geräumt, die sich mir in dieser Hinsicht in den Weg stellten. Stets hatte sie komplexe Aufträge und Anordnungen aus dem Zentralbüro mundgerecht für mich aufbereitet und mir so den Zorn des „Alten“ aus der Opernstraße vom Leib gehalten. Zum Abschied umarmten wir uns. Das blieb die einzige körperliche Interaktion, die wir uns gestatteten. Meine liebe Freundin war seit einiger Zeit verlobt und plante, in Kürze zu heiraten.

Im März hatte ich endlich einen eigenen Schlüssel und damit den völlig unabhängigen Zugang zu meinem Luxus-Refugium. Plötzlich konnte ich so lange schlafen, wie ich wollte, was vonnöten war, denn die Abende und Nächte waren weiterhin anstrengend. Abgesehen davon, residierte ich jetzt in einem ganz anderen Paris, einem eleganten, gepflegten, das dem nahekam, was ich mir bei meiner Ankunft so farbenprächtig ausgemalt hatte. Der Unterschied hätte nicht größer sein können, obwohl es gerade einmal sechs Kilometer waren, die Sumpf und Seide trennten.

Sogar die Sprache war eine andere. Madeleine flanierte nun auch tagsüber mit mir durch die Stadt und knutschte ganz ungeniert mit mir in der Öffentlichkeit. Weil mir der Status des kindlichen Gigolos ein wenig peinlich war, trug ich nun stets eine Sonnenbrille, die mein bleiches Antlitz verbergen sollte. Madeleine fand das witzig und trug fortan ebenfalls dunkles Glas über ihren lidschattenumränderten Augen, übrigens auch nachts. Der Gipfel der Verruchtheit! Wenn wir uns dann noch Gauloises Brunes ohne Filter zwischen die Lippen schoben, fühlten wir uns wie Berühmtheiten, die inkognito unterwegs waren.

Dabei waren wir nur gewöhnliche Ehebrecher, die generationsübergreifend agierten. In den verräucherten Kellern, in denen wir in Gesellschaft musenbeleckter Gestalten Rotwein schlürften, bildeten wir mit unseren existentialistischen Augendeckeln keine Ausnahme. Alle sahen irgendwie aus, als seien sie in geheimer Mission unterwegs und jeder, der auf sich hielt, trug Schwarz. Rabenfarbene Rollkragenpullover waren die Uniform der Bohème und Intelligenzija und so war es wenig verwunderlich, dass auch wir uns nihilistisch gewandeten. Madeleine sorgte für die stilgerechte Ausstattung in Premium-Qualität.

Zur Premiere meiner ersten Nacht in der Rue Albert Sorel war Madeleine von ihrer etwas jüngeren Freundin Édith Piaf zu einem Aperitif eingeladen worden. Ich durfte meine Geliebte begleiten und fand mich in einem äußerst bescheidenen Appartement wieder. Der Mangel an Luxus wirkte auf mich befremdlich, denn er stand im krassen Gegensatz zum Superstar-Status der Piaf. Madeleine bemerkte meine Irritation. Sie zwinkerte mir schelmisch zu, als wir einander zuprosteten.

Darüber hinaus haben wir an dem Abend wenig gelacht. Die Chansonette, frisch verheiratet mit dem Sänger Jacques Pills, verbreitete eine depressive, traurige und bekümmerte Stimmung. Es schien, als ob eine düstere Wolke über ihr schwebte, die jegliche Farbe absorbierte, und eine zentnerschwere Last sie zu erdrücken drohte. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass sie sehr klein war, geradezu winzig. Nicht umsonst trug sie den Titel „Spatz von Paris“, denn sie wirkte wie ein hilfsbedürftiges Vögelchen, das sich in den Wildwuchs einer Großstadt verirrt und Angst vor Nachbars Katze hatte. Später lernte ich mit Juliette Gréco das Gegenmodell kennen. Diese außergewöhnliche Künstlerin war nicht nur körperlich eine völlig andere Erscheinung, sie war auch witzig, spritzig, klug und charmant.

Natürlich besuchte ich mit meiner schicken Freundin auch das legendäre Olympia am Boulevard des Capucines im 9. Arrondissement, das Bruno Coquatrix nach nachkriegsbedingter Renovierung vor kurzem wiedereröffnet hatte. Auch Édith trat dort auf und meckerte ihre düsteren Lieder, die meine Laune regelmäßig in das Souterrain beförderten. Tatsächlich war es ein Meckern und kein Heulen, Klagen oder gar Singen. Madeleine hingegen liebte La Vie en rose.

Mit Beginn des Frühlings trennte ich mich schweren Herzens von der Stadt, die mir so viel gegeben hatte. Vier Monate hatte ich mich mit Verve in das pralle, feingeistige Leben gestürzt und nun kehrte ich zurück in die finsterste Provinz. Mondäne Metropole gegen miefige Kleinstadt, Chanel No. 5 gegen Kartoffelsuppen-Odeur. Federleichtes Kaschmir gegen mausgraue Kratzwolle. Sogar le look noir von Paris wirkte strahlend und leuchtend gegen die nasskalte Asphalttristesse, der ich nun anheimgefallen war. Auch wenn es nur eine kurze Zwischenstation zu Hause war, konnte ich kaum tiefer stürzen. Mich erfasste eine Stimmung, die sich am besten als „La Piaf in Endlosschleife“ beschreiben ließ.

Auszüge aus Kapitel 9

Der verrückte Frank, der unverschämte Johnny und der unsterbliche Mr. Acapulco!

... Das schien Frank, der unermüdlich an seiner Frau rumtätschelte, einen gewissen Respekt abzunötigen. „Ich kenne Zürs nur aus Erzählungen und weiß leider nicht, was das Luitpold ist, aber sicherlich ist das alles nichts im Vergleich zu L.A. Du kannst uns gerne dort besuchen kommen.“

"L.A.?“, fragte ich verwirrt. Damals war dieser Begriff noch nicht geläufig. Die USA waren für mich so fern wie der Mars.

Frank klärte mich auf: „Ach ja, ihr Hinterwäldler wisst natürlich nicht, dass L.A. die Abkürzung für Los Angeles ist. We Yanks like to cut, weil wir redefaul sind.“

Es war erstaunlich, wie sehr Frank sich als waschechter Amerikaner betrachtete. Aber typisch deutsch: Wenn wir etwas anpacken, dann gründlich! Meiner Ansicht nach gibt es keinen Begriff, der unsere Persönlichkeit besser beschreibt als das Adjektiv „gründlich“. Frank schien sich zu einem einhundertfünfzigprozentigen Ami entwickelt zu haben, was vor allem an seinem Sprachgemetzel deutlich wurde. Er mischte unzählige Anglizismen ziemlich sinnfrei in sein akzentgefärbtes Deutsch, das in dieser kaugummiartigen Darreichungsform für uns Eingeborene schwerlich verständlich war und höchstwahrscheinlich noch weniger für die arme Belinda.

„Meinst du das ernst?“, fragte ich ungläubig.
„Of course. What do you think? Also, wann dürfen wir mit deinem Besuch rechnen?“

Während er seine Einladung enthusiastisch bekräftigte, schlabberte er seine Frau auf eine Art und Weise ab, die mich etwas befremdete. Auch Vitalis schien Schwierigkeiten damit zu haben, den beiden Turteltauben bei ihren lustbetonten Handgreiflichkeiten zuzusehen, denn er guckte ostentativ nach rechts zu mir. Trotz dieser kleinen Unannehmlichkeit fand ich die beiden Linds äußerst sympathisch und versprach, sie im Winter zu besuchen.

Ende 1959 trat ich meine erste Reise in die Vereinigten Staaten an. Als Zwischenstopp stand New York auf dem Programm. Daraus wurde erst einmal nichts, denn der Flieger wurde aufgrund einer Sturmwarnung nach Montreal umgeleitet. So lernte ich auf dieser Reise auch noch einen Zipfel von Kanada kennen. Nach kurzem Aufenthalt flogen wir weiter nach Kalifornien.

In Los Angeles holte Frank mich vom Flughafen ab und schaukelte mich in einem imposanten – natürlich LINDgrünen – Cadillac Eldorado nach Beverley Hills. Beverly Hills galt als Synonym für den amerikanischen Traum von Reichtum, Glamour und Erfolg. Wir glitten über eine breite palmengesäumte Straße, die in Deutschland als Autobahn durchgegangen wäre und hielten am Ende vor einem großen Holzhaus.

„Yeah, wir sind da! My wooden home“, erklärte Frank lächelnd und bat mich auszusteigen.

„Oh my good, ist das wirklich deine Hütte?“, staunte ich beim Anblick dieses urgemütlichen Anwesens, das nur einen Steinwurf vom legendären Sunset Strip entfernt inmitten eines verwilderten Gartens lag. Es war so anders als die protzigen Villen, die ich auf dem Weg gesehen hatte. Von „Hütte“ konnte natürlich keine Rede sein. Vielmehr handelte es sich um ein weitläufiges L-förmiges Gebilde, das über zwei Stockwerke verfügte.

„Such dir ein Zimmer aus, mach’s dir gemütlich and stay as long as you want! Für dein Wohl ist gesorgt und wenn dir etwas fehlt, lass es mich wissen. Ich muss leider nochmal in die Praxis. Bis später dann.“

Als wäre das nicht schon fantastisch genug, stellte Frank mir auch noch seine Vespa zur Verfügung, damit ich die faszinierende Stadt völlig unabhängig erkunden konnte. Obwohl man eigentlich nicht von einer Stadt im herkömmlichen Sinne sprechen kann. L.A. ist vielmehr wie eine endlos lange Ansammlung verschiedener Viertel, die nahtlos wie Perlen aneinandergereiht sind.

Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts zog es die G‘spickten nach St. Tropez, Cannes oder Cap Ferrat, aber Acapulco…? Dabei war der mexikanische Badeort längst zum mondänen Zweit- oder Drittwohnsitz amerikanischer Showgrößen aufgestiegen. Aber diese Information war bis dahin bestenfalls zu weitgereisten Insidern durchgedrungen. Die Neue Welt erschloss sich Europäern, wenn überhaupt, in Filmen und kitschigen Familienserien aus Hollywood.

Einschlägige Medien, die bildgewaltig über Glam und Gloria tratschten, beschränkten sich vornehmlich auf miefige Königshäuser, Fernsehmoderatoren und heimische Schlagergrößen wie Peter Kraus, Cornelia Froboess und Freddy Quinn. Damals galt es keineswegs als Fauxpas, die bunten Klatschblätter am Kiosk zu erwerben. Man las derartiges Material nicht verschämt beim Friseur oder Zahnarzt, sondern offensiv im Café oder im Park. Anschließend reichte man das kostbare Druckwerk an Nachbarn und Angehörige weiter, bis es ein wenig zerfleddert auf einer häkeldeckchengeschützten Anrichte endete, auf der bereits ein Stapel dieser Publikationen weiterer Verwendung entgegenharrte.

Nun war ich also in Acapulco, das bisher Terra incognita für mich gewesen war. Die Bucht galt als Taucherparadies. Ich war so entzückt, dass ich gleich nach meiner Ankunft eine Unterwassertour buchte. Frank ließ sich dazu nicht überreden: „No my friend, das machste ma schön alleine. Ich habe Probleme mit den Ohren. Wir sehen uns dann später auf eine eisgekühlte Margarita. Ich warte am Pier auf dich.“

Für mich war das eine Ausrede. Er brachte mich zur Station und ich vertraute mich den einheimischen Tauchern an. Wie sich herausstellte, war Frank kein Unbekannter für sie. Flüsternd erteilte er ihnen Anweisungen, die ich nur eingeschränkt verstand. Sie lauteten in etwa so: „Please show my friend from good old Germany a really nice giant octopus. You know what I mean.“ Dabei zwinkerte er verschwörerisch mit den Augen.

Das Tauchen war kein Neuland für mich, denn ich hatte in meiner Jugend zahlreiche Gelegenheiten genutzt, mich mit dieser Disziplin vertraut zu machen, wenngleich in der Regel in Süßwasser. Das hier war eine andere Baustelle. Dass ich keinen Tauchausweis vorlegen konnte, war das kleinste Problem. Ich besaß einen, hatte ihn aber schlicht nicht mitgenommen, weil ich nicht damit rechnete, plötzlich die Tiefen des Pazifiks zu erkunden. Ein wenig schummrig war mir schon, als ich mir den Taucheranzug überstreifte, ein Tarierjacket darüber, das via Schlauch mit der Tauschflasche verbunden wurde und anschließend den schweren Bleigürtel um meine Leibesmitte legte. Das nahm viel Zeit in Anspruch und als ich endlich Maske und Brille auf dem Kopf und Flossen an den Füßen hatte, platschte ich hinter meinem Leittaucher ins warme Nass.

In einer Tiefe etwa zehn Metern wurde es plötzlich dunkel, obwohl die Sonne schien und ihre Strahlen durch das glasklare Wasser drangen. Die Dunkelheit wurde ausgelöst durch einen Schwarm von vier stattlichen Mantas, die zwei Meter über uns gemächlich ihre Bahnen zogen. Der größte von ihnen hatte einen mannshohen Durchmesser. Als es über uns wieder hell wurde, zeigte mir mein Begleiter eine Madonna, die im Meer versenkt worden war, um Taucher zu beschützen. Die gigantischen Oktopoden, die Frank angefordert hatte, hielten sich leider verborgen. Aber vielleicht gab es diese Riesenkraken in diesem Gewässer ja gar nicht. Wer weiß? ...

… Vorsorglich hatte ich bei Ankunft in San Francisco am Airport einen üppigen Strauß roter Rosen gekauft und den Koffer im Schließfach geparkt.

Jane Rosenberg lebte in der 19. Etage eines beeindruckenden 23-stöckigen Wolkenkratzers mit phänomenaler Aussicht auf die Stadt. Frank hatte nicht übertrieben. Jane war tatsächlich eine Augenweide. Als sie mir die Tür zu ihrem Appartement öffnete, war ich erst einmal überwältigt vom Anblick der langbeinigen Amazone, die mindestens doppelt so alt war wie ich. Sie trug einen enganliegenden rosa Schlauch, der ihrer Stromlinienform schmeichelte. Der Ausschnitt der bonbonfarbenen Kreation war gewagt. Und obwohl sie zu Hause war, steckten ihre ziemlich großen Füße in hochhackigen Sandalen, natürlich ebenfalls plüschrosa. Ihr braunes Haar hatte sie modisch aufgetürmt. Mit der Zuckerwatte auf Ihrem Kopf überragte sie mich um gefühlt zehn Zentimeter. Als sie bemerkte, dass ich sprachlos auf ihr Dekolleté starrte, lachte sie: „Du bist also der berühmte Hotelier aus Deutschland, der den Italienern zeigt, wie Gastfreundschaft buchstabiert wird. Komm rein und mach‘s dir bequem. Was darf ich dir zu trinken bringen? Einen Scotch oder etwas Leichteres?“

Ich hatte bis dahin außer einer Begrüßung nichts zur Interaktion beigesteuert. Als ich in das weiche Riesensofa versunken war, stammelte ich: „Ich trinke das Gleiche wie du, was immer es ist. Ich bin übrigens kein berühmter Hotelier, sondern leite lediglich ein kleines Haus an der Adria.“

„Ach, da hat Frank mal wieder gehörig übertrieben. Ist das bei Venedig?“ Sie hatte mir gegenüber auf einem grünen Samtsessel Platz bezogen und zog eine Zigarette aus einer silbernen Box, die sie mir hinhielt, damit ich ebenfalls zugriff. Ich lehnte dankend ab. Nachdem ich ihr Feuer gereicht hatte, sprang sie auf und stolzierte hoch erhobenen Hauptes Richtung Küche. Ich nutzte die Zeit, mich umzusehen. Das Wohnzimmer entpuppte sich als spartanisch dekorierter Saal. An den Wänden hingen quietschbunte abstrakte Gemälde, die sich mit den wenigen Bauhausmöbeln – mit dem Bauhaus kannte ich mich inzwischen aus – zu einem avantgardistischen Ensemble vereinigten. Das Beeindruckendste allerdings war das Fenster, das eine ganze Seite einnahm. Ich stand auf und blickte auf die Stadt, die ihren spanischen Namen Franz von Assisi verdankte. Schon wieder ein Italiener!

Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass sich ein Tier auf mich zubewegte. Mir stockte der Atem. Dieses Geschöpf war kein possierliches Haustier, sondern ein ausgewachsener Gepard. Ich wagte nicht, mich zu bewegen und hoffte inständig, dass die Raubkatze bereits gefrühstückt hatte.

Endlich kehrte Jane zurück mit einem Tablett, auf dem die beiden Drinks und eine mit Wasser gefüllte Vase standen. Sie schien nicht besonders überrascht ob des ungebetenen Gastes. Seelenruhig stellte sie die Gläser ab, gab die Blumen in die Vase, nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und ließ sich wieder auf grünem Samt nieder. Sie forderte mich auf, es ihr gleichzutun und mich ebenfalls zu setzen. Ich kam der Bitte schweigend nach, denn mir versagte die Stimme. Jane nahm einen großen Schluck Whisky und erklärte ungerührt: „Offenbar habe ich vergessen, die Schlafzimmertür zu schließen. Du musst keine Angst haben. Johnny ist gut erzogen, er weiß, was sich gehört.“

Da war ich mir nicht so sicher. Als ich bibbernd auf dem Sofa saß, trabte Johnny in Richtung Glastisch. Zögernd blieb er davor stehen, als überlegte er, wie er mich mageres Kerlchen am besten einverleiben konnte, in einem Stück oder als Gulasch. Plötzlich biss er alle Rosenköpfe von den Stängeln ab und spukte sie auf den hellen Teppich. Der sah hinterher aus wie nach einem Blutbad, allerdings war außer den Rosen niemand zu Tode gekommen. Als Johnny sein zerstörerisches Werk beendet hatte, schenkte mir seine Majestät noch einen verächtlichen Blick, drehte sich um und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

Jane sprang auf und schloss die Tür hinter ihm. „Danke, dass du nicht in Panik ausgebrochen bist, obwohl Johnny deine schönen Blumen vernichtet hat. Es tut mir leid.“ Als ob es um Blumen gegangen wäre! Nachdenklich fuhr sie fort, „naja, ich glaube Johnny wollte dir mit dieser Geste kundtun, dass ihm die Rosen nicht gefallen haben. Vielleicht war er auch wenig eifersüchtig. Wer weiß das schon?“ Ich trank meinen Scotch in einem Zug aus und verabschiedete mich hastig von meiner kapriziösen Gastgeberin, denn fürs Erste hatte ich genug von eifersüchtigen Mitbewohnern, die abgebissene Rosenköpfe auf teure Auslegware spucken.

Ob Frank davon gewusst hatte? Vermutlich war ihm auch schon einmal das zweifelhafte Vergnügen zuteilgeworden, Johnny kennenzulernen …

Auszüge aus Kapitel 15

Acapulco, Rendezvous mit Ava Gardner und „Die Adabeis“

Vermutlich war ich der größte Fan, der jemals Ava Gardner angehimmelt hat. Das kam daher, dass ich sie ein paar Jahre zuvor in Sevilla getroffen hatte. Derart hingerissen von der damals „schönsten Frau der Welt“, lud ich sie spontan zum Dinner in das feinste Restaurant der Stadt ein. Woher ich die Chuzpe nahm, ist mir bis heute schleierhaft. Vermutlich war sie über meinen forschen Vorstoß genauso verblüfft wie ich. Ein gewöhnlicher Sterblicher, der die Frechheit besaß, Ihrer Majestät, ungekrönter Königin Hollywoods einen romantischen Abend bei Kerzenlicht anzutragen. Aber oh, wie sie meinen gewagten Vorstoß damals ignorierte! Das Staubkorn, auf das sie nicht einmal mit ihrem polierten Schuhabsatz treten würde.

Aber so sollte es nicht bleiben. Im Winter 1967 ergab sich anlässlich unseres alljährlichen Aufenthalts in Mexiko eine weitere Gelegenheit und dieses Mal wollte ich zum Zuge kommen. Zufällig traf ich die „Barfüßige Gräfin“ und ihre Mutter Molly in einem der vornehmsten Nachtclubs Acapulcos, dem legendären Baby‘O. Die Damen saßen alleine an der Bar und erregten keinerlei Aufmerksamkeit. So ganz stimmte das natürlich nicht, denn ich ergriff die Gelegenheit und pflanzte mich neben Mrs. Gardner Senior auf den Barhocker. Offenbar war Mutter und Tochter so fad, dass sie sich sogar von einem Nobody, einem „Staubkorn“ aus dem schnöden Europa zu einem Drink einladen ließen. Da sie bereits im Aufbruch gewesen waren, verabredeten wir uns auf einen weiteren Cocktail für den nächsten Abend. Ich war verzückt. Endlich durfte ich meiner Angebeteten ganz nahekommen.

Natürlich warf ich mich für das Jahrhundertereignis in Schale und erntete misstrauische, aber auch belustigte Blicke meiner Frau. Seit kurzem war ich zum zweiten Mal verheiratet. Meine neue Ehefrau war das attraktive Mannequin, das ich mit meiner Schwester in New York kennengelernt hatte.

„Was hast du vor? Hat man dich zum Casting für Oberkellner eingeladen? Du riechst wie ein Eintänzer aus der Peripherie und so siehst du auch aus. Pass auf, dass du dir beim Aufpinseln der Pomade keine Flecken aufs blütenweiße Hemd kleckerst.“
Ihre Beleidigungen lächelte ich tapfer weg. „Du musst es ja wissen, Liebling. Danke für den freundlichen Hinweis. Was eigentlich hast du vor mit deinem Outfit, das mit weniger Stoff auskommt als deine Frisur mit Haarspray?“

Bärbel schmunzelte spitzbübisch. „Meine Freundinnen und ich gönnen uns heute eine Mädels-Sause und lassen uns von glutäugigen Mexikanern bestaunen und vielleicht auch anbaggern. Wer weiß?“

„Naja, warum nicht? Besser, als sich von feisten, schwitzenden Amis in billige Hotelzimmer abschleppen zu lassen.“

Mit zittrigen Fingern knotete ich mir meine erdbeerrote Krawatte um den Hals, küsste meine schöne Frau zum Abschied und machte mich auf den Weg zu meiner Jahrhundertverabredung.

Leider verlief das Rendezvous nicht wie erhofft. Genaugenommen endete es desillusionierend. Die umschwärmte Diva war inzwischen 45 Jahre alt und trug die Spuren langjähriger Alkoholsucht unübersehbar in ihrem einst so makellosen Gesicht. Unter ihren dunklen Augen, die längst von schweren Lidern verhangen waren, fristeten schwere Tränensäcke ein ungeliebtes Dasein. Sie wirkte müde und abwesend, aber das war nicht das Schlimmste. Schlimmer war die Anwesenheit ihrer blümchengewandeten Begleiterin Molly, die sich wenig Mühe gab, ihre außergewöhnlich miese Laune zu verbergen. Den Charme-Preis gewannen beide nicht. Wir quälten uns mit Small Talk der anspruchslosesten Sorte durch den zäh langen Abend, der sich wie ein endloser Parcours durch eine Ödnis aus Seichtigkeit wand. Es bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung, dass ich unsäglich erleichtert war, als ich endlich die Rechnung begleichen durfte. Was für ein Debakel!

Nach diesem missglückten Wiedersehen freute ich mich auf meine Rückkehr ins Interconti und auf meine spärlich ausstaffierte Angetraute. Wenigstens ersparte sie mir nach ihrer Rückkehr die Frage nach dem Verlauf meines Ausflugs. Vielleicht wollte sie vermeiden, dass ich bei ihr nachhakte. Offen gestanden, wollte ich gar nicht so genau wissen, was sie und ihre Freundinnen angestellt hatten. Grässlicher als das, was ich erlebt hatte, konnte es nicht gewesen sein.

Seit wir unsere vormals rein männliche Reisegruppe um die holde Weiblichkeit bereichert hatten, pflegten wir eine neue Art des Zeitvertreibs. Unsere Gattinnen liebten das High-Society-Viewing. Zu diesem Zweck gingen wir nachmittags zum Tennisspielen und anschließendem Afternoon-Tea in die Villa Vera und wurden selten enttäuscht, jedenfalls in Hinsicht Star-Dichte. Pool, Terrasse und Garten waren stets üppig bestückt mit aufgehenden Sternen, etablierten Künstlern und abgehalfterten Darstellern. Über die Jahre avancierten wir zu geschätzten „Kennt niemand, trotzdem gern gesehen“, sprich Stammguckern bei Teddy, mit dem ich häufig Tennis spielte. Obwohl er fast dreißig Jahre älter war als ich, verlor ich fast immer gegen „Mr. Acapulco“.

Es gab natürlich auch andere Beschäftigungen, denen wir im Dolce Vita-Eldorado nachgingen. Wir tauchten, segelten, sprangen mit dem Fallschirm aus luftiger Höhe und fuhren Wasserski. Das Füllhorn an Möglichkeiten war grenzenlos. Der einzige Zeitvertreib, dem wir uns beharrlich verweigerten, war träges Strandpökeln mit gelegentlichen Wendeeinheiten. Mir reichte es schon, die rotgebrutzelte, träge Spezies während der anstrengenden Sommermonate in Italien aushalten zu müssen.

Das Hotel, das wir bewohnten, war einer dieser gewaltigen in den Strand gerammten US-Klötze, dich sich uniform aneinanderreihten. Architektonisch eine Zumutung, gebot es jedoch über eine prächtige Pool-Anlage mit kleinen Einzelbecken, die über Kanäle miteinander verbunden waren. Riesige Palmen und saftige Urwaldflora umsäumten das fluide Gebilde. Das Highlight aber bildete die Grotte mit Wasserbar, die schon am frühen Nachmittag intensiv frequentiert wurde.

In dem Jahr, in dem ich mit Ava Gardner das denkwürdige Tête-à-Tête hatte und mit Frau und Anhang in die Villa Vera zum Schaulaufen tingelte, war auch Gunter Sachs vor Ort. Er hatte mit Gemahlin und Freunden ebenfalls im Interconti eingecheckt, was bewies, dass der ruppige Betonquader durchaus den Ansprüchen der verwöhnten „Hab-eh-schon-alles-gesehen-Klasse“ aus der alten Welt genügte.

Der Playboy – und Gunter Sachs war der Berühmteste dieser inzwischen nahezu ausgestorbenen Gattung, die eigentlich Artenschutz genießen sollte – flog mitsamt Fangemeinde in der gleichen Maschine wie wir Richtung Heimat. Seinem Ruf als Exzentriker machte er alle Ehre, als er sich vor dem Abflug eine schwarze Decke über den Kopf stülpte und einen Terroristen mimte. Erstaunlicherweise wurde diese eher geschmacklose Darbietung von der Flugbegleitung gänzlich ignoriert, was wohl daran lag, dass die Flughafenpolizei anderweitig beschäftigt war.

So wurden wir unfreiwillig Zeugen einer noch peinlicheren Darbietung. Eine sehr blonde deutsche Schauspielerin, die in den USA an der Seite eines sehr bekannten Komikers reüssiert hatte, wurde rüde aufgefordert, auszusteigen. Vor unser aller Augen musste sie draußen ihren Koffer öffnen, aus dem haufenweise Handtücher quollen, die sie aus ihrem Hotel entwendet hatte. Nachdem man ihr das Diebesgut abgenommen hatte, durfte sie wieder in die Maschine steigen. Mit gesenktem Kopf, das Gesicht unter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, huschte sie zu ihrem Platz in einer der vorderen Reihen. Wir taten so, als hätten wir von all dem nichts mitbekommen. Getuschelt wurde dennoch hinter vorgehaltener Hand.

Auszüge aus Kapitel 20

Goldjungs

… Eines Abends vertraute uns mein Namensvetter Wolfgang an, dass er von einem alten Freund eine interessante Insider-Information erhalten habe. Mit gesenkter Stimme – damit niemand an den Nebentischen etwas mitbekam – erzählte er Ungeheuerliches: „Stellt euch vor, ein amerikanischer Marine-Offizier, der momentan in Fernost auf einer US-Basis stationiert ist, behauptet, es gäbe da ein von der amerikanischen Marine versenktes Schiff, auf dem die unvorstellbare Menge von fünf Tonnen Goldbarren lagert.“

„Das glaubst du doch selbst nicht!“, prustete es aus mir heraus, bevor ich über den Tischrand gebeugt leise fortfuhr: „Woher hast du überhaupt diese Info?“

Wolfgang hob seinen Zeigefinger an den Mund, sah sich vorsichtig um und erklärte dann: „Von einen gewissen Mr. Morris, einem Navy Offizier, der unfreiwilliger Teilnehmer einer fragwürdigen Aktion war. Unter Androhung der Versenkung eines Schiffes, dessen Eigentümer offenbar nicht die japanische Marine, sondern nipponesische Piraten waren, wurden Roh- und Wertstoffe konfisziert und auf ein amerikanisches Frachtschiff umgeladen. Die kostbare Ladung umfasste angeblich zwanzig Tonnen Kautschuk, zehn Tonnen Silberbarren und fünf Tonnen Goldbarren.“

„Oh…“, murmelten wir unisono angesichts dieser Menge sowie der Brisanz der Story. Mehr fiel uns in diesem Moment nicht ein, denn wir wollten Wolfgangs Redefluss nicht unterbrechen.

„Mr. Morris landete anschließend mit seinem Schiff an der Ostküste Vietnams, in Dien Chau am Golf von Tonkin im südchinesischen Meer. Einen Teil der gekaperten Ware haben sie auf vier Armeelaster umgeladen und diese wiederum wurden vom Marineschiff etwa dreißig Meter ins Meer gezogen, wo sie schon beim Eintauchen ins Wasser flugs versanken. Das Marineschiff entfernte sich insgesamt etwa fünfzig Meter vom Strand und öffnete anschließend die Meerwasserluken, damit es auf den Meeresboden in ungefähr zwanzig Meter Tiefe absank. Die höchsten Schiffsaufbauten ragten danach gerade noch um die acht Meter aus dem Wasser. Laut Mr. Morris hat es einige tödliche Unfälle bei diesen Manövern gegeben. Der Rest der Besatzung einschließlich Offizieren war auf fünf Überlebende geschrumpft.

Also um es kurz zu machen, Mr. Morris wandte sich an mich, weil er Klaus in Brasilien kennen und schätzen gelernt hatte. Mein Bruder hatte mich empfohlen, weil Mr. Morris jemanden brauchte, dem er vertrauen konnte und der in der Lage war, die Bergung des Schatzes mit dem nötigen Mut und finanziellem Background zu organisieren.“

Um das eben Gesagte zu unterstreichen, zog Wolfgang ein Kuvert aus seiner Jackentasche und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Es handelte sich um unscharfe Schwarzweißfotos, die angeblich Mr. Morris und ein paar Marines vor einem Schiff zeigten. Ob es sich um das versunkene Objekt handelte, war nicht auszumachen.

Wolfgang lehnte sich bedeutungsschwer zurück und fragte dann ganz ungeniert: „Nun, was haltet ihr davon? Wer von euch würde sich an so einer Aktion aktiv und natürlich auch finanziell beteiligen?“

Unsere Runde bestand an diesem Abend aus dem Initiator Wolfgang Bennecke, seinem Bruder Klaus, Benno von Breunig, Georg von Breunig, Dieter Bakic, Horst Ackermann und meiner Wenigkeit. Ich wagte zu fragen, wie Wolfgang sich das Ganze vorstellte. „Nun ja, der Plan wäre, in Vietnam – möglichst nicht zu weit entfernt von unserem Zielort – ein Schiff zu kaufen, groß und stabil genug, um es mit 35 Tonnen Material zu beladen, ohne Gefahr zu laufen, dass es absäuft. Auf das Boot lassen wir motorisierte Ladekräne montieren, falls diese nicht bereits vorhanden sind.“ Wolfgang nahm einen großen Schluck Riesling, um uns eine kleine Denkpause zu gönnen, und erklärte: „Damit wir während der Hebung unseres Goldschatzes keine Schaulustigen, Polizei, Küstenwache oder ähnliche unerwünschte Gäste anlocken, würde ich vorschlagen, im Hinterland ein Volksfest mit viel Alkoholika, Musik, Tanz und weiteren Zerstreuungen zu organisieren. Mit etwas Bakschisch kriegen wir es dann auch noch hin, den Abschnitt der Küstenstraße, die den Blick auf unsere Aktion freigibt, auf einer Länge von fünf Meilen zu sperren.“

Als Wolfgang unsere ratlosen Blicke bemerkte, lachte er aufmunternd: „Sobald wir absehen können, dass die Bergung perfekt vorbereitet und organisiert ist, treten wir mit Banken in Thailand in Verhandlungen bezüglich Verkaufs des gehobenen Materials. Ich habe dazu schon einige solvente Geldhäuser im Visier, die auf solche Deals geradezu erpicht sind.“

Benno wandte ein: „Ja, was soll uns der Spaß denn kosten? Außer deinen komischen Fotos haben wir überhaupt keine Belege für das Vorhandensein dieses ominösen Schiffes mit seinen prall gefüllten Armee-Lastern.“ Es war nicht verwunderlich, dass gerade Benno diesen Aspekt angesprochen hatte. Er guckte stets aufs Geld.

„Sei doch froh, dass es keine Beweise gibt! Denn gäbe es sie, würden noch ganz andere Glückskadetten auf den Plan treten. Wie sagt man so schön: No Risk, No Fun. Aber im Ernst, ich rechne mit einem Aufwand von 150.000 Mark. Eine lächerliche Summe, wenn wir sie unter uns allen aufteilen."

Ich fand, dass das zwar wirklich nicht viel war, wenn man bedachte, welch bemerkenswerten Gewinn diese Investition versprach, aber das Ganze stand doch auf recht wackeligen Beinen und das sagte ich auch. „Was ist eigentlich mit deinem Tipp-Geber? Der möchte doch sicher auch in irgendeiner Form beteiligt werden. Hast du mit ihm schon über seine Prämie gesprochen?“
„Noch hat er keine Summe genannt, aber mit einem herzlichen Dankeschön wird er sich vermutlich nicht zufriedengeben.“
Merkwürdig, dass diese Frage bisher nicht geklärt war. Fürs Erste einigten wir uns darauf, dass Georg von Breunig sich – weil finanztechnisch etwas schwach auf der Brust – physisch in dieses Abenteuer mit ungewissem Ausgang einbringen sollte. Wer für was aufkommen sollte, entschied letztlich Wolfgang Bennecke, der mit dem geheimnisvollen Mr. Morris in regem Austausch stand. Angeblich befand sich unser Informant irgendwo in Vietnam oder Lagos oder wer weiß wo auf einer US-Basis.

Nach unserer Zusage beauftragte Herr Morris – seinen Vornamen hat Wolfgang uns leider nicht verraten – seine Kollegen, in den Häfen von Vietnam, Kambodscha und Thailand nach einem entsprechenden Frachter zu suchen, der unseren Anforderungen entsprach. Kurze Zeit später trafen erste Angebote bei unserer grauen Eminenz in der Rümannstraße ein. Zur persönlichen Inaugenscheinnahme flog Mr. Morris durch halb Südostasien und klapperte diverse Häfen ab. Nach Wochen bangen Wartens traf endlich die erlösende Nachricht ein, dass er ein geeignetes Schiff in Hongkong gefunden hatte. Es sollte etwa 75.000 US-Dollar kosten. Ob dieser Preis angemessen war und wieviel es tatsächlich gekostet hat, haben wir nie erfahren und wahrscheinlich auch unser Wolfgang nicht.

Nach Überweisung des veranschlagten Kaufpreises vergingen weitere drei Monate, bis Mr. Morris uns Bilder von dem umgebauten Frachter übermittelte. In der Post mit den Fotos lag auch ein langer Brief, in dem er uns bat, einen aus unserer Gruppe nach Hongkong zu schicken, um den Frachter zu begutachteten und anschließend bis zum Hafen von Dien Chau zu begleiten. Eine weitere Aufgabe bestand darin, den Fortgang der Bergung zu überwachen und uns über den Fortschritt auf dem Laufenden zu halten. Dieser Jemand war ja bereits bestimmt worden und so machte sich Georg auf die Reise. Unser Auserwählter besaß den unschätzbaren Vorteil, über ein nahezu unbegrenztes Zeitbudget zu verfügen, denn er ging selten einer bezahlten Tätigkeit nach. Glücklich war er nicht über die Aussicht, in den „Krieg“ ziehen zu müssen, wie er es flapsig ausdrückte.

Inzwischen waren die letzten Wochen des Sommers angebrochen. Das bedeutete für mich, dass ich in Kürze unser letztes noch in Betrieb stehendes Hotel in Milano Marittima saisonbedingt schließen würde. So war es nur logisch, dass Benno vorschlug, dass wir uns ebenfalls auf den Weg nach Südostasien machen sollten. Ich gab ihm recht. Denn sollten wirklich mehr als fünf Tonnen Gold gehoben werden, mussten wir Mittel und Wege finden, es mit größtmöglichem Ertrag loszuschlagen. Ich gab Wolfgang recht, dass wir uns in diesem Falle mit Bankmanagern vor Ort treffen mussten, denen wir die heikle Ware verhökern konnten.

Benno warf einen weiteren wesentlichen Punkt in die Diskussion: „Ich denke, wir sollten unsere Frauen mitnehmen, damit unser Aufbruch nicht unnötig die Neugierde zurückgebliebener Bekannter weckt. Du weißt ja, wie das ist. Wenn ein paar Kerle miteinander verreisen, lässt das die Gerüchteküche brodeln, vor allem dann, wenn sie in Richtung Asien düsen. Ich sage nur ‚Kegelverein‘.“
„Aha. Aber du hast sicher recht, dass es etwas komisch aussieht, wenn wir gestandenen Kerle gen fernen Osten aufbrechen. Aber wie verkaufen wir diese Tour unseren besseren Hälften?“

„Ist doch ganz einfach!“ Benno grinste und fuhr ungerührt fort: „Wir laden sie zu einer Urlaubsreise ein. Sie werden so begeistert sein, dass sie gar nicht weiter fragen, was das Ganze soll.“

So überzeugt wie er war ich leider nicht. Ich kannte meine Frau. Mit Benno einigte ich mich, dass wir in Vietnam erst einmal nicht zur Bergungsstelle am Hafen von Dien Chau fuhren. Das erschien sinnvoll, weil es 1975 so gut wie keine Hotels und folglich auch keinen Tourismus gab, der diese Bezeichnung verdient hätte. Die Anwesenheit bleicher Europäer wäre unnötig aufgefallen. Es bestand schlicht keine Notwendigkeit, diesen Hafen aufzusuchen. Stattdessen war vorgesehen, dass das Schiff in Richtung Bangkok ablegen sollte, sobald die zwanzig Tonnen oder ein Großteil davon geladen waren. Dort wollten wir dazustoßen. So jedenfalls lautete die grobe Absprache mit Wolfgang, Klaus Bennecke und Mr. Morris. Die endgültige Entscheidung darüber sollte getroffen werden, sobald wir Nachrichten von Georg erhielten, der in den nächsten Tagen nach Hongkong fliegen würde, um dort auf der Azuma anzuheuern.

Entsprechend dieses vorläufigen Plans buchte ich in Absprache mit Benno unsere zehntägige Reise nach Bangkok mit unseren Frauen Tessa und Bärbel im Schlepptau. In der Hauptstadt wollten wir Kontakt zu zwei thailändischen Großbanken aufnehmen, um unsere Verkaufsabsichten zu offenbaren. Wie wir uns diese Verhandlungen vorstellten, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht verifizieren. Ich vertraute einfach auf Bennos Verhandlungsgeschick. Er war ein begnadeter Verkäufer, wenngleich dieses Talent sich bis dahin auf den Absatz von IBM-Computern beschränkt hatte.

Vor unserer Abreise galt es natürlich noch, unseren lieben Georg auf seine anspruchsvolle Aufgabe in Hongkong vorzubereiten. Dieses Ansinnen gestaltete sich als Herkulesaufgabe, denn Georg zeigte sich wenig willens, die Vorhut unserer Aktion zu bilden. Wir redeten mit Engelszungen auf ihn ein, erklärten ihm alles wie einem begriffsstutzigen Kind und bereiteten ihn auf alle Eventualitäten und mögliche Überraschungen vor. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Aufgaben, die wir ihm zugedacht hatten, aber willigte schließlich mangels Alternativen – sprich mangels Geldes – ein. …

Auszüge aus Kapitel 22

Nancy Reagan, Gianfranco Ferré und ein Duft-Debakel

… Die Kleinen wurden von den Großen im Idealfall attackiert, im schlechten Fall gefressen und in the worst case gingen sie unter wie Steine im Wasser. Das Geschäft mit Gels, Düften und Tuben glich einer Schlangengrube, in der nur die Abgefeimtesten überlebten. Unser Betrieb musste ständig auf Hochtouren laufen und unsere Werbeabteilung kämpfte an vorderster Front um die Brosamen, die die Haifische übrigließen. Täglich mussten wir neue Einfälle generieren und zügig umsetzen...

Parfums der Marken Lancôme, Estée Lauder, Lancaster, Yves St Laurent, Dior, Guerlain und Chanel wurden mit mehrstelligen Millionenbeträgen in den Markt geflutet und aufgrund der schieren Vielzahl der Zerstäuber herrschte ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb. Da uns große Budgets weder für Werbung noch für Marketing zur Verfügung standen, mussten wir uns etwas einfallen lassen, das am Ende ebenfalls Erfolge zeitigte, wenngleich in bescheidenerem Umfang.

Zu meinen vornehmsten Aufgaben in meiner Funktion als Leiter eines Unternehmens gehörte, dass ich dafür sorgte, die Produkte, für deren Vertrieb wir verantwortlich zeichneten, stets aufs Neue in allen verfügbaren Medien zu lancieren. Und weil es sich um Luxusartikel handelte, galt die Gesellschaftspresse als unser wichtigstes Transportmittel. Um deren Aufmerksamkeit zu erringen, mussten wir allerdings tief in der Trickkiste schürfen.

An einem trüben, kalten Frühlingsfreitag des Jahres 1985 bat ich zu diesem Zweck meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen spätnachmittags in unser kleines Besprechungszimmer. Nachdem ich eine erste Flasche Chianti entkorkt hatte, forderte ich sie auf, sich zu setzen. Das Prozedere war ihnen nicht neu. Wir hatten schon einige Feierabende in diesem Raum verbracht und in der Regel nicht umsonst. Dass meine Entourage ihre Freizeit so bereitwillig opferte, erfüllte mich mit Dankbarkeit und die zeigte ich gerne, indem ich sie ab und an zum Abendessen in ein nahegelegenes Restaurant einlud oder sie mit kleinen Aufmerksamkeiten überraschte.

Als ich die Gläser eingeschenkt hatte, nahm ich am Tischende Platz, atmete tief durch und erklärte dann: „Also, … wie ihr wisst, müssen wir für die neue Kreation von Ferré Begehrlichkeiten wecken. Anstatt auf nicht vorhandene Mittel setzen wir – wie gewohnt – auf Aktionen. Vielleicht hilft ein guter Roter, unsere Gehirnwindungen so zu ölen, dass sie originelle Einfälle im Minutentakt ausspucken.“

Auf diese Einleitung hin prosteten wir einander zu und brüteten Ideen aus, wie Hühner Eier. Ja, und was soll ich sagen, am Ende dieses langen Tages hatten wir die Flaschen leer und das Nest voll. Aus dem rotweinseligen Potpourri pickten wir anschließend die „Fabergés“ heraus – knackige Ideen, die nach Umsetzung schrien.

Die Verrückteste setzten wir stante pede in die Tat um. Dazu muss ich etwas ausholen: Vom 2. bis 4. Mai 1985 sollte das 11. Gipfeltreffen der Regierungschefs der Gruppe der Sieben im Palais Schaumburg in Bonn unter dem Vorsitz von Helmut Kohl stattfinden…

Unser Augenmerk galt Letztgenanntem, oder besser gesagt, seiner zarten Gattin Nancy, die ihn auf dieser Reise begleitete. Die First Lady war eine Mode-Ikone mit einem außergewöhnlichen Gespür für zeitlose Eleganz, gepaart mit raffinierter Opulenz. Eine bessere Markenbotschafterin konnte man sich für ein neues Profumo di lusso nicht wünschen.

Ich schickte ein Telex an den Hersteller des seit Monaten gehypten Duftes Gianfranco Ferré, den der berühmte Designer aus Mailand unter seinem Namen kreiert hatte. In meinem Anschreiben an Diana de Silva Cosmetique in Cormano bat ich um Übersendung einer Magnum-Version dieses Parfums für sage und schreibe tausend Mark. Der riesige Flakon sollte mit einer goldfarbenen Plakette versehen werden, auf die der Name „Nancy Reagan“ eingraviert sein sollte. Die Firma lieferte das Gewünschte innerhalb kürzester Zeit.

Am 1. Mai 1985 flog ich mit meinem kostbaren Geschenk für Mrs. Reagan nach Köln-Bonn. Mir war bewusst, dass nicht ich derjenige sein konnte, der ihr die Gabe überreichte. Es musste eine Persönlichkeit sein, die ihr nahe genug kam. Keinesfalls durfte ich riskieren, dass die teure Flasche irgendwo verschütt ging. Bevor ich ins Flugzeug stieg, rief ich deshalb den Protokoll-Assistenten von Bettino Craxi in Bonn an und informierte ihn, dass ich seinem obersten Dienstherrn am frühen Nachmittag ein Geschenk für die Ehefrau des US-Präsidenten vorbeibringen würde.

In Bonn angekommen, nahm ich ein Taxi direkt zum Palais Schaumburg. Da ich meinen Besuch von München aus avisiert hatte, wurde ich ohne großes Federlesens zur Suite von Bettino Craxi geleitet, wo mich der Sekretär des Ministerpräsidenten empfing. Ihm hielt ich das in Zellophan gehüllte Paket – größer als eine Schuhschachtel – hin mit den Worten: „Mit freundlichen Grüßen Ihrer Botschaft in Bonn, die darum bittet, dieses Präsent, eine neue Duftkreation aus dem noblen Hause Ferré, der First Lady der Vereinigten Staaten, Mrs. Nancy Reagan zu überreichen.“ Auf dem Präsent prangte unter einer großen roten Schleife halb verborgen ein goldenes Schildchen mit der Aufschrift With compliments to Mrs. Nancy Reagan – Gianfranco Ferré.

Während ich mein Sprüchlein auf Italienisch herunterbetete, trat Bettino Craxi mit nacktem Oberkörper aus dem Badezimmer. Er hatte ein Handtuch um den Hals geschlungen. Einen Moment lang stutzte er, dann aber stahl sich ein freundliches Lächeln in sein markiges Gesicht. Wenn er lächelte, sah er ziemlich passabel aus. Mit galanter Noblesse nahm er mir das Mitbringsel ab: „Was für eine nette Aufmerksamkeit des Botschafters. Richten Sie ihm meinen aufrichtigsten Dank aus und auch Ihnen gebührt ein herzliches Dankeschön für den Transfer. Wie kommt es, dass Sie so gut Italienisch sprechen?“

Ich freute mich über das Kompliment und erzählte ihm von meinen Hotelerfahrungen in Milano Marittima. Wir plauderten ein paar Minuten miteinander. Erstaunlich fand ich, dass es ihn nicht interessierte, wie ich zu dem Boten-Job gekommen war. Er verabschiedete mich mit dem Versprechen: „Seien Sie versichert, dass ich dieses prachtvolle Meisterwerk italienischer Handwerkskunst bei nächster Gelegenheit persönlich übergeben werde.“ Die Eloge auf die italienische Handwerkskunst erschien mir in diesem Zusammenhang etwas übertrieben, aber da sie mein Anliegen aufwertete, sollte sie mir recht sein. Mit einem fürstlichen Trinkgeld, das mir sein Sekretär gönnerhaft in die Hand gedrückt hatte, verließ ich die Suite.

Der Coup erwies sich als äußerst erfolgreich. Die eingeladenen Journalisten berichteten ausführlich über das Geschenk mit der persönlichen Widmung, das die Italiener (haha) der Amerikanerin gemacht hatten. In München kümmerte sich unsere Frau Schubert darum, dass die schreibende Zunft, die nicht zum Wirtschaftsgipfel geladen war, von der Aktion erfuhr. Natürlich vergaß sie nicht, in ihre Bulletins häufig den Namen Gianfranco Ferré einzuflechten, denn darum ging es ja schließlich. Der Erfolg war überwältigend und brachte mir ein persönliches Dankeschön des Maestros Gianfranco Ferré ein. Er lachte lauthals am Telefon über meine Chuzpe und meinte: „Sie sind mir ja ein ganz Ausgefuchster. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Da können sich meine Landsleute noch ein Scheibchen abschneiden. Gratuliere!“

Im Winter 1986 bekamen wir ein neues Duftensemble auf den Tisch, das wir vertreiben sollten. Es war müßig darüber nachzudenken, dass der Markt der fine Fragrances vollkommen übersättigt war. Sprich, die Macher mussten werbetechnische Meisterwürfe landen, um ihre Tröpfchen aus dem Moschus-Dschungel der Riechkredenzen herauszuheben. Nomen est omen, war ihnen das gelungen. Hascish Royal klang verrucht, verboten und zugleich mystisch und exotisch. Diesem großartigen Versprechen konnte der Inhalt eher weniger Folge leisten. Erst stieg er einem süßlich in die Nase und anschließend folgte ein Abgang, der an Küchenkräuter denken ließ. Mit dem Aroma des verbotenen Rauschmittels hatte diese Kreation rein gar nichts zu tun. Aber wer kannte das schon?

Um Hascish Royal unter die Leute zu bringen, brauchte es wieder einmal ein Fabergé-Ei. Eines befand sich sprichwörtlich vor unserer Nase auf dem Präsentierteller: Seit Wochen lag der aus Ostanatolien stammende Ministerpräsident der Türkei, Turgut Özal, mit unserer Bundesrepublik über Kreuz. Er zeigte sich zwar wirtschaftspolitischen Interessen gegenüber durchaus offen, aber aufgrund seiner Herkunft galt er als glühender Verfechter konservativen Lebensstils. Verständlich, dass ihm das, was in Deutschland ablief, gar nicht gefiel. Zu viele Freiheiten, zu wenig staatliche Kontrolle. Vorsorglich ließ er an den Grenzen Touristen aus dem ausgemachten Sündenpfuhl besonders gründlich kontrollieren. Wurden sie auch nur mit geringen Mengen Rauschgift erwischt, setzte es drakonische Strafen im ehemaligen Osmanischen Reich.

Aufgrund dieser Sachlage informierte ich sämtliche mir zugängliche Presse- und Nachrichtendienste via Telex darüber, bei Einreise in die Türkei kein Hascish Royal im Gepäck zu haben, denn es bestünde die Gefahr, festgenommen zu werden. Eigentlich war dies eine unglaublich banale Warnung, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Zahlreiche Medien berichteten anschließend über das Risiko dieses harmlosen Duftes. Die beste PR schenkte uns der ORF-Moderator Dieter Moor, der im Kulturmagazin „Kunst-Stücke“ die Gefährlichkeit von Hascish Royal für Türkei-Reisende ausführlich abhandelte. Panikmache und Verbote weckten schon immer das breite Interesse und folglich die Nachfrage und so entwickelte sich Hascish Royal mit geringem Aufwand zum begehrten „Muss-ich-Haben“-Schlager. Es versteht sich von selbst, dass unsere 540 Einkäufer sich überschwänglich für die ungewöhnliche Verkaufshilfe bedankten.

Ermutigt durch diesen Erfolg reifte an einem dunklen Winterabend in unserem Büro mit dem „Sterntaler-Konzept“ ein weiteres Ei kreativer Schaffenskraft: Über den Fußgängerzonen verschiedener Städte sollten Drachenflieger Tausende Muster der royalen Mixtur abwerfen...

Eine wilde Biografie

Operation Buttercremetorte, das Buch beleuchtet die aufregenden Stationen des Wolfgang "Rudy" Neumann.